Vorbemerkung: Dieser Beitrag wird SOFORT veröffentlicht – so unfertig und fehlerhaft, wie er gerade entsteht. Und das hat Gründe:
Ich habe in den letzten zwei Tagen stundenlang an einem Bericht geschrieben, ihn als lokalen Entwurf gespeichert, ihn bearbeitet – und als ich wieder online war, war er weg. Komplett! Jedenfalls der Inhalt. Es war nur noch ein “Beitrag” vorhanden mir der Bezeichnung “Unbenannt” und einem gänzlich leeren Textfeld. Ich hätte, wie man sich leicht denken kann, schreien und kotzen können. Dann hab ich mich hingesetzt, um ihn noch einmal zu schreiben. Als ich nach etwa einer Stunde feststellte, dass ich bei dem Krach, der in meinem Motelzimmer (dazu nachher mehr) herrscht, und ohne Stuhl und Tisch nicht gut schreiben kann und stattdessen lieber essen gehe (natürlich mit Handy und Tastatur), war am Tisch auch diese neue Version (natürlich noch ein Entwurf) so leer wie oben beschrieben.
Ich war komplett bedient – nicht nur von der netten Service-Fachkraft hier im Restaurant… Es ist also die reine Notwehr, wenn ich dem jetzt durch “Salami-Taktik-Veröffentlichung” entgegenzuwirken versuche.
Es geht um die letzten drei Tage, den 17., 18. und 19. Januar:
Bei meinem Aufbruch in Ocna Muresch/Miereschhall waren es laut Routenplaner noch 95 Kilometer bis nach Sibiu/Hermannstadt. Nach den Verzögerungen der vergangenen Tage spielte ich mit dem Gedanken, das in zwei Tagen zu bewältigen statt in dreien. Die erste Voraussetzung – eine zeitige Abreise – war gegeben. Auch ein gutes Vorankommen: Mittagspause machte ich gegen 13:00 Uhr nach 26 Kilometern – das hatte es bis dato, wenn ich mich recht erinnere, noch nicht gegeben. Zudem war die Strecke bis dahin eine ausgesprochen schöne gewesen: Erst trockener Asphalt einer kaum befahrenen kleinen Straße, dann geschlossene feste Schneedecke, und gegen elf Uhr war sogar die Sonne stellenweise durch die geschlossene Wolkendecke gebrochen und hatte das Hügelland um mich herum mit ihrem “moussierenden” Schein verzaubert. In mir löste das einmal mehr das erhebende Gefühl aus, wirklich ins Morgenland unterwegs zu sein.
Dies alles muss sich wohl in meinem Gesicht gespiegelt haben: Die Menschen, denen ich am Nachmittag in einer recht belebten Ortschaft begegnete, Schulkinder, Jugendliche und Erwachsene, grüßten mich durchweg von sich aus oder erwiderten freundlich meinen Gruß. Das war anders, als ich es vor wenigen Tagen erlebt hatte: Da war ich mit dem düsteren Gedanken schwanger gegangen, das Bloggen einzustellen, weil sich außer meinen engsten Angehörigen kaum ein Schwein für mein Geschreibsel zu interessieren scheint und obendrein meine Blutsverwandten – so mein damaliger augenblicklicher Eindruck – leider überwiegend ganz anders reagierten, als ich es mir gewünscht und (ganz naiv!) auch ein kleinwenig erhofft hatte…
Am Ortsausgang kam mir dann ein vielleicht etwa zwölfjähriges Roma-Mädchen entgegen. Sie sah mich nicht nur mit ungewöhnlicher Offenheit und Direktheit an, sondern verwickelte mich auch gleich in ein Gespräch (dies, obwohl sie fast nur Rumänisch sprach). Wo ich herkomme, was ich will und wohin mich mein Weg führt, war schnell geklärt (es ist doch immer wieder erstaunlich, wie gut die Verständigung funktionieren kann, wenn beide Gesprächspartner einfach in ihrer Sprache loslegen, und der jeweils andere hört offen und unbefangen zu!). Dann kam die wohl unvermeidliche Frage nach dem Geld. Als ich ihr erklärte, dass ich als Pilger ohne Geld unterwegs bin, hielt sie sich nicht lange mit Staunen auf: Sie bot mir noch schnell das letzte Apfelsinenstückchen an, das sie in der Hand hielt, und – hast du nicht gesehen – war sie weg.
Ich sann noch kurz über die Parallelen zwischen dieser Begegnung nach und der, die ich am Morgen meiner Abreise in Spissky Nove Sol (?) mit dem Zigeuner-Paar hatte: Auch von dort waren mir die Offenheit und das gewinnende Lächeln in Erinnerung geblieben, die einem erfolgreich direkt ins Herz zu greifen versuchen. Unwillkürlich kam mir ein Satz aus einem historisierenden Roman in den Kopf, dessen Autor mir komplett entfallen ist, den ich aber wörtlich zu erinnern glaube: “Sie schenkte mir ein buhlerisches Hurenlächeln.” Das charakterisiert es in sofern gut, als zwar keinerlei sexuelle Aufforderung mit den beschriebenen Bettelanbahnungen verbunden war, die Art des Blickes und der Worte aber eine Art der Vereinnahmang, ja der “seelischen Entblößung” zeigte, der ich mich aktiv hätte entziehen müssen, um von ihr nicht im Kern meiner Psyche berührt zu werden (wozu ich aber keinen Grund sah). Und dann stellte sich beide Male heraus, dass es eigentlich um Geld ging… Ich empfinde das als eine gewisse seelische Parallele zur körperlichen Prostitution.
Bald hatte ich allerdings andere Sorgen: Das, was eben noch eine Haupt- und vorher eine gut ausgebaute Landstraße gewesen war, degenerierte jetzt zu einem engen, steilen, unbefestigten Weg. In den letzten Tagen war der nur von wenigen Pferedefuhrwerken befahren worden – das war an den Spuren im Schnee deutlich zu erkennen. Nach meiner Wegbeschreibung sollte ich mich aber immer noch auf ebendieser Landstraße befinden… Die mehrfache Überprüfung meines Standortes ergab aber, dass alles seine Richtigkeit hatte. Zunächst jedenfalls.
Dann wurden die Wagenspuren weniger, die kreuz und quer verlaufenden Schaftritte dagegen mehr, und mein Handy meldete: Kein GPS-Empfang! Und als die letzten Abdrücke von Pferd und Wagen mit einer Wendeschleife in einer zu Brennholz verarbeiteten Baumgruppe endete, zeigte das Display meines Telefons, dass ich mich inzwischen im kartographischen Niemandsland befand… Dafür hatte ich die Schafherde jetzt links vor mir – genau dort, wo ich hätte entlang gehen müssen, um mich wieder in die Richtung zu bewegen, in der “mein” Weg sein musste. Kein Hütehund, der etwas auf sich hielt, würde mir das gestatten, und die hiesigen Hirtenhunde glänzen, das hatte ich inzwischen erfahren, überwiegend mit ganz anderen Eigenschaften als mit Humor. So war ich froh, dass mich noch kein Hund entdeckt zu haben schien, und beschloss, die Herde in weitem Bogen rechts zu umschlagen.
Ich kraxelte also durch den steilen, ein wenig zerklüfteten und mit Gebüsch durchsetzten Hügel und hatte die Schafe schon mehrere hundert Meter seitlich links hinter mir, als die Hunde doch noch Alarm schlugen und mir wütend nachsetzten. Jetzt begann der Schäfer, zu rufen. Gott sei Dank, dachte ich. Wenn er die Viecher zu sich ruft, bleiben mir Stress und Auseinandersetzung erspart. Doch die Hunde rannten weiter, obwohl der Schäfer immer lauter wurde…
Das schien ja besonders heiter zu werden! Ich korrigierte meine Richtung derart, dass ich noch etwas direkter den Abstand zwischen mir und den Schafen vergrößerte: Die Hunde würden doch wohl irgendwann verstehen, dass ich keine Gefahr für die Lämmer darstellte! Nun tauchte rechts von mir noch ein zweiter Schäfer auf. Auch er schien, zunächst vergeblich, seinen Hunden hinterher zu rufen. Als ich kurz darauf wirklich auf dem gesuchten Weg war, kam ich nicht weit: Der zweite Schäfer hatte ebenfalls den “Auto-Trampelpfad” erreicht und vertrat mir energisch den Weg. Ob ich an der Hütte des “Alten” gewesen sei, wollte er wissen!
Wenns weiter nichts war… Ich erklärte, dass ich eine Hütte nicht gesehen hätte. Warum der Alte denn dann so schreie?!? Nun, das musste er ihn schon selber fragen. Ich konnte darüber nichteinmal qualifiziert spekulieren… Dennoch bestand der Rumäne darauf, dass “das jetzt mit dem Alten geklärt werden” müsse. Ich erklärte ihm, wo ich herkomme und was ich vorhabe und setzte am Schluss noch die Frage hinzu, was die Beiden denn für Menschen seien, mich in dieser Weise aufzuhalten und zu verdächtigen?!
Das stieß in meinem Gegenüber wohl einen Prozess des Umdenkens an: Als sich der erste Schäfer näherte, rief ihm sein jüngerer Kollege schon von weitem zu, er könne sich beruhigen, es sei alles in Ordnung. Als er dann bei uns war, kommentierte er mein Vorhaben zwar mit einem Knurrigen “Blödsinn!” (ich bat den Jüngeren um Übersetzung), duldete aber, dass ich Fotos machte. Wir unterhielten uns noch über GPS-Empfangslücken, den Weg nach Sibiu und die Arbeit in Deutschland (der jüngere Schäfer hatte dort 23 Jahre lang gearbeitet), dann verabschiedeten wir uns, und ich setzte – meine Irrfahrt im Wald fort…
Ich wusste bei ein oder zwei Weggabelungen nicht, ob ich rechts oder links gehen sollte. Und da das Gehen auf den “Wegen” ebenso anstrengend war, wie der Gang quer durch den Wald, und obendrein klar war, dass ich etwa einen Kilometer weiter sowieso rechtwinklig würde abbiegen müssen, suchte ich mir den direkteren Weg schräg auf die Straße zu.
An einer kleinen Kuppe vor einem eichenbewachsenen Steilhang hielt ich kurz an, um die Lage zu “peilen”. Und nach wenigen Sekunden hatte ich den Eindruck, Wild zu hören. Leider nicht eines der starken Wildschweine, deren Fährten ich schon seit meinem Übergang vom Freld in den Wald bewundert hatte, sondern ein Fuchs, der gemütlich den Hang heraufgeschnürt kam und auch auf zwanzig Meter Entfernung von mir keine Notitz nahm. Einige Schritte weiter bekam er aber Wind von mir: Er hob nur kurz den Kopf, drehte sich rasch um und schnürte den gleichen Weg wieder zurück, den er gekommen war.
Durch diesen überraschenden Anblick gestärkt, konnte ich den abenteuerlichen Abstieg durch den Steilhang gut bewältigen und mich stark und geländegängig fühlen – sogar noch, als ich einen zusätzlichen Grabeneinschnitt im Hang überwinden musste. Auch als ich eine noch steilere Grabenflanke hinunter musste, ging alles gut: Ich hab mir wirklich fast kein Bisschen wehgetan, als ich auf dem Hosenboden landete…
Um 16:00 Uhr in Valea Lunga/Langenthal einlaufend, fragte ich dort an der Katholischen Kirche den Nachbarn nach dem Pfarrhaus und bekam auch gleich Auskunft. Auf mein Klingeln hin öffnete mir eine junge Frau; ein spielendes Kind war in der Stube zu sehen. Die Dame verstand nichts von dem, was ich zu sagen und zu fragen hatte, holte sich aber sofort Hilfe: Einjunger Mann erschien, stellte sich als “Bogdan” vor, las meinen Pilgerbrief – und begann, zu telefonieren. Dann brachte er michj zu einem anderen Haus des Dorfes und machte mich mit einer älteren Ungarin, ihrem Mann und ihrem Sohn bekannt. Ich erfuhr (der Sohn konnte Englisch), dass das Pfarrhaus schon lange nicht mehr vom Pfarrer bewohnt war, die katholische Kirche aber immerhin noch in Benutzung war – im Gegensatz zur evangelischen: Die war wohl komplett verwaist, nachdem fast alle Deutschen, die früher hier im Dorf die Mehrheit gestellt hatten, ausgewandert waren. Ich bekam ein warmes Essen und das Angebot, auf dem Sofa zu übernachten.
Das habe ich gern angenommen: Ich hätte zwar auch noch weiterlaufen können – meine Beine hatten die 44 Kilometer mit allen “Extras” wie Querfeldein-Stapfen durch den Schnee und Steilhang-Abstieg gut verkraftet – Auszuruhen war aber eine sehr schöne Alternative. Vorher allerdings musste ich die alte Mutter trösten: Beim Gedanken, dass ich ernstlich versuchen könnte, zu Fuß nach Jerusalem zu gehen, kamen ihr die Tränen…
Lieber David Britsch,
Etwa seit Jahresbeginn lese ich mit wachsendem Interesse Ihre Reisebeschreibungen. Ich finde es großartig, mit wieviel mut und Ausdauer und bedonders Gott- und Menschenvertrauen Sie diese abenteuerliche Pilgerreise unternehmen und bestehen.
Etwas erinnert mich Ihre Fußreise an den “Spaziergang nach Syrakus”, den J.G. Seume vor 215 Jahren machte. Er wanderte im Januar in Sachsen los und kam im April auf Sizilien an, nur war es auf seinem Weg quer durch Italien bestimmt nicht so eiskalt wie jetzt bei Ihnen.
Ich wünsche Ihnen weiterhin einen guten Schutzengel, Kraft und Glück.
Ihre Friedhild Hüfler