Der 12.Januar stand ganz im Zeichen der von mir neuentdeckten “Via Maria”. Dieser Pilgerweg führte mich erst ein einsames, weites und weitgehend unbewaldetes Tal entlang. Dann begann er, hügelig zu werden, und schließlich fand ich mich in einer waldreichen, stark zerklüfteten Mittelgebirgsregion wieder. Die Sonne, die zunächst gut zu sehen gewesen war, versteckte sich nun weitgehend unsichtbar hinter einem Gemisch aus Hochnebel und Wolken.
Und dann kam ich an einen Taleinschnitt, in dem vor kurzem Holz geschlagen worden war. Das schwere Gerät, das dabei zum Einsatz gekommen war, hatte viele “Wege” entstehen lassen – und dafür gesorgt, dass ich den “richtigen” nicht mehr ausmachen konnte. So setzte ich denn aufs Geratewohl meinen Weg fort und hielt fleissig Ausschau nach dem Zeichen der Via Maria. Die Spuren der Rückemaschinen wurden weniger und hörten schließlich ganz auf – doch das Pilgerzeichen fand sich nicht mehr…
Die Richtung einzuhalten, war durch die zeitweise erahnbare Sonne einigermaßen möglich. Dazu musste ich allerdings recht bald vom befestigten Weg abweichen und es “querwaldein” versuchen. Das war bei der gegebenen Berg- und Tallandschaft und im Schnee ein kraftraubendes Unterfangen. Und ich muss zugeben, dass ich doch recht froh war, erst einen befestigten Waldweg und eine halbe Stunde später sogar den Pilgerweg wiedergefunden zu haben…
Nach einem kurzen “zivilisatorischen Intermezzo”, als ich ein kleines Städtchen durchquerte, ging es eine Reihe von Kilometern auf einem Sträßchen weiter – allerdings fast genauso einsam wie während der ersten Tageshälfte. Und dann “befahl” mir das Wegzeichen, auf eine Art Auto-Trampelpfad zu wechseln. Auch hier war wieder kilometerweit keine Menschenseele zu sehen.
Als dann endlich doch ein Dorf in Sicht kam, fragte ich gleich an einem der ersten Häuser, ob ich kurz hereinkommen dürfe. Das wurde schnell bejaht – ich schien eine willkommene Abwechslung zum Fernsehprogramm zu sein, mit dem sich ein älteres Paar sowie zwei junge Männer und eine junge Frau die Zeit zu vertrieben. Ich hatte ein konkretes Anliegen: Ich wollte diesmal doch gern etwas genauer wissen, in welcher Entfernung ich mit einer “belebten” Kirche oder einem Kloster zu rechnen hätte. Da die Verständigung in gebrochenem Englisch sehr mühsam war und unzuverlässig schien, wurde noch ein Freund von ausserhalb hinzugezogen. Von ihm brachte ich in Erfahrung, dass sich etwas abseits meines Weges ein Kloster befand – und zwar in einer vielleicht gerade noch bei Licht zu bewältigenden Entfernung. Ich würde dabei zwar drei Kilometer seitlich von meinem Weg abweichen müssen, doch das wollte ich heute in Kauf nehmen.
Bei begonnener Dämmerung erreichte ich die Abzweigung. Da stand: Manastirea Cristorel 4 km. Hmmm… Dann sind’s halt acht Kilometer Umweg insgesamt. Auch nicht schlimm!, so dachte ich mir. Bei zügiger Gangart wären die 4 Kilometer in 40 Minuten hinzubekommen – da sollte ich noch im letzten Büchsenlicht am Kloster eintreffen.
Dumm nur, dass nach genau 4 Kilometern wieder ein Schild zu sehen war: Manastirea Cristorel 4 km… Weiter sehr zügig den Berg hoch stapfend, malte ich mir in allen Farben aus, wie ich den Leutchen im Kloster Vorhaltungen machen würde wegen dieses Verstoßes gegen das Falsch-Zeugnis-Verbot. Immerhin hatte ich zwei nur wenige hundert Meter entfernten Kirchen buchstäblich links liegen gelassen, als ich in Richtung Kloster abgebogen war. Das hätte ich wohl kaum getan, wenn ich auf dem Wegweiser geslesen hätte: Manastirea Cristorel 8 km. Und überhaupt: Es hat auf dieser Reise ja auch schon Zeiten gegeben, in denen wir diese vier Zusatz-Kilometer nicht so ohne weiteres verkraftet hätten – meine Beine und ich! Und dann der Schnee, der Frost, die Einsamkeit, die Dunkelheit… Eieiei!
Es waren dann wohl doch nur noch knapp drei Kilometer bis zum Kloster. Was war ich froh, dass das Eisentor, mit dem man die Straße schon mehrere hundert Meter vor dem Kloster absperren konnte, noch geöffnet war! Das Kloster selbst war baulich eine gewisse Enttäuschung. Ich hatte ein grosses, mittelalterliches Gemäuer erwartet – und fand ein eher modernes Gebäude von der Grösse eines weitläufiger geschnittenen Bauern- oder Einfamilienhauses vor.
Und noch etwas ließ Assoziationen zu einem weltlichen Anwesen aufkommen: Ein großer, dunkler Schäferhund-Mischling tauchte aus der Dunkelheit auf und machte mächtig Radau, als ich mich diesem “Bäuerinnenhaus Gottes” näherte. Ich habe mich dann doch sehr gefreut, dass er keinerlei Anstalten machte, mich zu zerfleischen, und dankbar sah ich mich vor meinem inneren Auge schon behaglich und sattgegessen in ein frisch bezogenes Klosterbett sinken. Doch Gott hatte an diesem Abend anderes mit mir vor: Die Schwester Oberin – ich habe übrigens nicht in Erfahrung gebracht, welchem Orden das Kloster angehört – eröffnete mir nämlich schon an der Tür, dass ich hier nicht würde übernachten können.
Das war in der gegebenen Situation allerdings bedauerlich, aber aus drei Gründen nicht wirklich schlimm: Erstens durfte ich reinkommen, mich aufwärmen und mit einem Abendessen stärken. Zweitens hatte ich erfreulicherweise noch Kraftreserven, die ich notfalls mobilisieren konnte. Und drittens machte sich eine der Schwestern daran, telefonisch eine “Ruhestätte” für mich zu organisieren.
Die sollte dann im übernächsten Dorf sein – dort, wo ich die Abzweigung genommen und die Kirchen verschmäht hatte. Ich wollte da eigentlich wieder hinlaufen (nach etwa 47 km Brutto- und, da die letzten sieben Kilometer negativ in die Wertung eingingen, 33 km Netto-Tagesstrecke), doch die Schwester Oberin machte mir deutlich, dass man schon auf mich warte und deshalb die “Maschina” zum Einsatz kommen müsse. Nun, unter den gegebenen Gesamtumständen war das akzeptabel.
Eine Viertelstunde später sassen wir dann alle in der Stube des Vize-Primars von Aschileu Mare: Die Oberin, eine einfache und schweigsame Ordensschwester, der Vize selbst, seine Haushälterin und ich – und die Primarin, die erste Bürgermeisterin des Ortes. Bei Orangenlimonade, Wasser und salzigem “Geknabber” zog sich der Abend etwas hin (den Unterhaltungen konnte ich dann doch nicht folgen…). Und als endlich erst die Bürgermeisterin und dann auch die Nonnen gegangen waren, hörte ich es zu meinem leisen Schrecken in der Küche brutzeln. Und tatsächlich: Der Herr des Hauses hatte meiner Versicherung, im Kloster bei weitem genug gegessen zu haben, nur halben Glauben geschenkt und seiner “Perle” den Befehl erteilt, noch zwei grosse rote Würste zu braten.
Danach war mir ja nun so überhaupt nicht mehr. Zu Tisch gebeten, konnte und wollte ich aber nicht so unhöflich sein, mich gegenüber dieser gut gemeinten “Aufmerksamkeit” gänzlich zu verschliessen, und so habe ich mir denn auf die Nacht noch eine halbe Wurst “obendrauf” einverleibt. Das sollte sich später aber noch als eine Sünde herauskristallisieren, für die ich Abbitte leisten musste – auf Knien vor der Toilette…
Morgens fiel das Frühstück dann eher übersichtlich aus, und diesmal war es für mich auch ein leichtes, es bei dem Wenigen zu belassen, das ich problemlos essen konnte: Mein Gastgeber machte keinerlei Anstalten, mir irgend etwas aufzunötigen. Wahrscheinlich war er unfreiwilliger Ohrenzeuge meines nächtlichen “Bußgebets” geworden.
Bevor ich aufbrach, schenkte er mir noch etwa fünfundvierzig Lei (die ich dann auch prompt am nächsten Tag gebraucht habe!), und zusammen gingen wir um Punkt 8:00 Uhr in die Ortsmitte zu “seinem” Rathaus. Die anschliessende Verabschiedung fiel fast noch herzlicher aus, als ich es in den Tagen zuvor schon erlebt hatte. – Da hätte ich mich doch beinahe gefragt: Warum suche ich eigentlich immer nach einer kirchlichen Unterkunft?!?
Es scheint ja fast so, dass die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft in dem Maß zunehmen auf deiner Wanderung, wie der materielle Wohlstand der Menschen abnimmt. Oder liegt es eher daran, dass die Bewunderung zunimmt für einen, der es von Deutschland aus zu Fuß und mit nix in der Hand schon so weit gebracht hat? Wirklich extraordinaire, das alles! Mögen dir auf deinem Weg weiter so gute Menschen begegnen.