Zur Wintersonnenwende wollte ich in Auschwitz sein. Das habe ich leider nicht geschafft. Immerhin war ich dort (entsprechend “Plan b”) noch vor Weihnachten, nämlich am 24.12.2016 um 11:45. Nötig war dazu, in den letzten zweieinhalb Tagen gut 125 Kilometer zurückzulegen. Meine Beine haben das erfreulicherweise erlaubt.
Der Beginn des Museumsbesuchs war geprägt vom Bemühen, irgendwie an meine mir zugesandten Papiere heran zu kommen. Die ablehnende, um nicht zu sagen feindselige Haltung der polnischen Mitarbeiter hat mich dabei zunächst ein wenig irritiert.
Im Nachhinein kann ich sie gut verstehen: Die Bilder von den sogenannten Befriedungsaktionen der Wehrmacht und der SS direkt nach dem Überfall auf Polen haben sich mir tief in die Seele eingegraben. Das Museum selbst beeindruckte mich zunächst nur bedingt – man kennt ja doch vieles schon, anderes konnte ich in der Kürze der Zeit nicht in Augenschein nehmen -, und als ich auf dem riesigen Ruinenfeld von Birkenau stand, sagte ich mir irgendwann: David, das alles lässt dich aber doch verblüffend kalt und unberührt.
Ich war auf den Schienen auf das Tor zugegangen – das Bild, dass sich einem dabei bietet, ist ja geradezu zum Inbegriff, zum Synonym der Tatsache Auschwitz geworden. Die Deportierten haben diese Perspektive aber nie gehabt: Wenn sie ueberhaupt einen Blick durch eine Luecke in der Wand des Güterwaggons erhaschen konnten, dann natürlich nach der Seite raus.
Auf der Rampe stehend, habe ich mir vorgestellt, hier aus dem Wagen getrieben zu werden, nach Tagen des Reisens unter unsäglichsten Bedingungen. Wie mag es hier ausgesehen haben, wenn man ankam? Hätte ich gewusst, was mir und meiner Familie bevorsteht, oder hätte ich es nur geahnt? Hätte ich Hoffnung geschöpft beim Anblick dieses Barackenmeeres, oder hätte ich vielmehr alle Hoffnung fahren lassen? Was hätte ich gedacht und gefühlt bei der separierten Aufstellung, Männer hier, Frauen und Kinder dort? Was bei der Selektion? Was hätte ich empfunden gegenüber dem SS-Wachpersonal und dem Selektierer? Klare Gedanken, die aber nur sehr bedingt mit Emotionen verbunden waren. Es war ein merkwürdiger Schwebezustand, der sich bei mir einstellte, ein Verharren zwischen Nichtwissen, Ahnen, Hoffen, Bangen. Das Ungeheuerliche emotional nicht fassen können. Mit meinem Bewusstsein halb in einer Fantasiewelt, halb bei mir selbst, stellte sich eine so nicht gekannte innerliche Halbdistanz zu den historischen Ereignissen ein.
Das Selbsteingeständnis, ausgerechnet hier und bei diesen Gedanken gefühllos zu bleiben, scheint in meinem Inneren irgendetwas geöffnet zu haben, denn zwei Minuten später hat mich pötzlich etwas mit einer solchen Urgewalt ans Herz und in die Seele gefasst, dass ich bitterlich zu weinen begann. Ich hatte geglaubt, allein zu sein (auf dem Weg, den die Frauen und Kinder damals von der Rampe zu den Gaskammern entlang gehen mussten), doch einer der Museumsangestellten, die dort mit ihren Einachs-Elektrorollern unterwegs sind, war auf mich aufmerksam geworden und hatte sich mir von hinten respektvoll genähert. Nun wies er mich mit sanfter Stimme darauf hin, dass in einer halben Stunde geschlossen würde (immer noch in diskretem Abstand und von hinten), und als ich ihm das bestätigen konnte, war er beruhigt und entfernte sich wieder. Ich selbst ging noch ein Stück den Todesweg entlang. Dann musste ich mich weinend und betend auf die Knie sinken lassen.
Ich habe den Besuch dieses Ortes als eine doch sehr, sehr komplizierte Angelegenheit erlebt: Was zuhause im stillen Kämmerlein leicht und eindeutig scheint, wird vor Ort unglaublich schwierig, jedenfalls dann, wenn man darauf verzichten will, die inneren und äußeren Zwischen-, ja Misstöne einfach beiseite zu wischen. So kann ich heute besser als je zuvor verstehen, dass zwar die Einen fordern: niemals zu vergessen; den Opfern und ihren eventuellen Hinterbliebenen Respekt und Gerechtigkeit zukommen zu lassen, usw. usf… Und auf der anderen Seite sich aber auch die artikulieren, denen das ganze “Getue und Brimborium um diese uralte Sache, mit der wir doch eigentlich längst nichts mehr zu tun haben”, ungeheuer auf die Nerven geht. So sehr, dass sie – hinter corgehaltener Hand oder gar offen – fordern, die “Angelegenheit” ad acta zu legen. Und je mehr die eine Seite fordert, desto schlimmer wird die Situation auf der jeweils anderen Seite. Ich hatte nie so deutlich wie heute das Gefühl, dass wirklich stimmt, was ein kluger Mensch einmal so formulierte: “Die Welt wird den Juden den Holokaust nie verzeihen.”
Für mich war (und ist) von fundamentaler Bedeutung, der geistigen Dimension dessen, was im dritten Reich hier und anderswo geschehen ist, wenigstens nachzuspüren – wirklich erfassen kann ich sie sowieso nicht. Wenn ich mich dafür öffne, kann es an der Größe und Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge keinen Zweifel geben: Es ist dann ähnliches zu spüren, wie es Rudolf Otto in seinem Buch “Das Heilige” beschreibt – nur mit umgekehrten Vorzeichen.
Wenn ich unmittelbar vor Ort bin, fühle ich mich dabei zeitweise ein wenig wie im Auge des Taifuns, wo man den Sturm nicht richtig wahrnehmen kann. Mit ein paar Kilometern Abstand, etwa hier im kirchlichen Internat in Auschwitz, ist mir das haarsträubende, das schauerlich-erschütternde der Tatsache Auschwitz leichter und zuverlässiger zugänglich. Aber ich kann hier wie dort auch spüren, wie peinlich berührt, wie abgestoßen, ja wie gelangweilt viele Menschen auf dieses Thema eben auch reagieren. Ich kann sie gut verstehen. (Und wenn ich parallel dazu noch von der jüngsten UN-Resolution gegen Israel lese und davon, wie – neben dem “Rest der Welt” – auch Steinmeier und Obama damit umgehen, dann denke ich: es wäre wichtig, dass sich heute möglichst viele Menschen – gerade auch solche, die politische Verantwortung tragen – mit ihren tief unter der Oberfläche verborgen schlummernden Regungen und Potentialen auseinandersetzten…).
Apropos: Ich habe – um ein umfassenderes, tief innerliches Verständnis der historischen Vorgänge bemüht – mich an der Rampe in Birkenau auch einmal so hingestellt, wie ich das auf den Fotos der SS von den Deutschen gesehen habe: etwas breitbeinig, Füße merklich nach außen gekehrt, Hände oder Fäuste in die Hüften gestemmt, den Blick über das zur Selektion aufgereihte “Judenpack” schweifen lassend. Im Bewusstsein die Tatsache, als Herrenmensch auch Herr über Leben und Tod zu sein.
Die Wirkung war frappierend.
Später entstand in mir die Frage: Wie ist das heutzutage? Wo begegnet einem eine vergleichbare Haltung? Ich erkenne sie derzeit am ehesten: bei Islamisten; bei nationalistischen Türken, aber auch Nationalisten anderer Länder (“Ich bin stolz, ein Türke/Russe/Araber zu sein!”).
Und wie sieht das aus bei mir selbst, außerhalb des oben beschriebenen Experiments?!?
Das ist eine extrem schwierige Frage. Mir kommt dabei dieser Physikversuch in den Sinn, bei dem an beiden Enden eines Rohrs ein luftgefüllter Ballon angebracht wird. Von alleine ist immer der eine Ballon mit der ganzen im System verfügbaren Luft gefüllt, der andere ist leer. Und wenn man die Luft aus dem vollen Ballon in das Rohr und den leeren Ballon hinein drückt, geht das erst ungeheuer schwer. Und sobald Gleichstand erreicht ist, kippt die Angelegenheit: Der volle Ballon wird der leere sein, und der leere Ballon wird der volle sein.
Ja, auch ich habe wohl die Anlagen in mir, die bei den Menschen im dritten Reich dazu geführt haben, dass sie sich als Massenmörder hergaben – da müsste man “nur” den entsprechenden Ballon kräftig genug drücken. Allerdings halte ich die in mir dagegen wirkenden Kräfte für stark ausgebildet. Trotzdem: Diese menschlichen bzw. unmenschlichen Anlagen zu erkennen oder doch wenigstens zu ahnen, – bei mir selbst wie bei meinen Mitmenschen – ist herausfordernd schmerzlich, aber auch von größter Wichtigkeit, wenn ich den Lauf der Geschichte und auch die politische Gegenwart verstehen will.