Nach dem Besuch von Auschwitz-Birkenau machte ich mich zunächst im Stadtgebiet auf die Suche nach einer kirchlichen Unterkunft. Bei den ersten drei Kirchen, die ich fand, bin ich schon im Ansatz gescheitert. Es war jeweils entweder niemand da oder man öffnete mir das Pfarrhaus nicht. Bei der 4. schließlich hatte ich mehr Glück: drei Ordensschwestern waren da und machten nach einigem hin und her sogar die Tür auf. Dann aber die Enttäuschung: Einen deutschen Pilger wollten sie nicht einlassen. Sie verwiesen mich – an das Pfarrhaus einer der Kirchen, bei denen ich schon gewesen war. Also hieß es, eineinhalb Kilometer durch den Schneeregen zurück zu gehen. An der Kirche angekommen, wurde ich zwar diesmal fündig, was das “Parafia”, das Pfarrhaus angeht, aufgemacht hat aber leider niemand von den sechs oder sieben Kirchenmännern, deren Namen und Titel an den Klingeln steht.
Nun machte ich mich nach Südosten auf den Weg, die Richtung, die ich gehen muss, um Jerusalem näher zu kommen – irgendwann würde ich, so Gott will, schon auf eine Herberge stoßen. Ich ging also durch den leichten Regen in die Nacht hinaus, im “Extremspar-Modus” einen müden und zunehmend wunden Fuß vor den anderen setzend (ich war seit 5:00 Uhr auf den Beinen, und das kleine Gewaltmärschchen am Morgen hatte doch Spuren hinterlassen).
Lange Zeit bekam ich überhaupt keine Kirche zu Gesicht. Dann, etwas abseits der Straße, ein Kirchlein, das durchaus als Notbehelf für einen müden Pilger geeignet schien: Der Eingang war durch ein Vordach mit Seitenwänden gut geschützt, und an den beiden Längsseiten des Kirchenschiffs war eine Art Vordach angebracht, unter dem man immerhin trocken würde liegen können. Da die Uhr aber erst kurz nach neun zeigte, wagte ich es nicht, mich dort gewissermaßen “anzuquartieren” – um Mitternacht war ja durchaus mit einer Messe zu rechnen. Einfach warten konnte ich aber auch nicht: nach 10-15 Minuten sitzen wurde mir erbärmlich kalt. Also gabs nur eins: weiterziehen!
Einige Kilometer weiter war am Straßenrand ein LED- Leuchtband aufgebaut, das auf polnisch, deutsch und englisch freie Zimmer annoncierte.
Ich beschloss in der Not, zu klingeln, mich als Pilger vorzustellen und meine geschenkten Zloty hervorzukramen, um damit vielleicht das Weihnachtsgeschenk zu erlangen, als das ich ein Bett zu diesem Zeitpunkt zweifellos betrachtet hätte. Die Chancen, beim Weitermarschieren in Richtung Jerusalem noch heute auf ein kostenloses Nachtlager zu stoßen, schätzte ich inzwischen eher gering ein. Ich ging also durch die Gartentür neben der Lichtlaufanlage und klingelte am Haus. Reaktion: zunächst keine. Dann, als ich mich anschickte, zu gehen, öffnete ein schlanker Herr mit spitzer Nase und strengem Blick und machte auf meine Begrüßung hin nur ein fragendes Gesicht. Als ich für meinen Teil nachfragte, ob er Deutsch oder Englisch spreche, wurde er noch strenger und machte mir – auf meine gefühlt halbsekündliche Sprachlosigkeit hin – die Tür vor der Nase wieder zu.
Das war zwar nicht verständlich, von der Motivationsseite aus betrachtet – wollte er denn kein Zimmer vermieten?!? – aber immerhin deutlich. Hier jedenfalls würde ich mein Weihnachtsgeschenk heute also nicht bekommen…
Nach ca. einer Stunde weiteren “Geh-Meditierens” streifte mir plötzlich der Ast eines Apfelbaums die Kapuze vom Kopf. Zunächst ging ich einige Schritte weiter. Dann dachte ich: Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass du in diesem Haus nachfragen sollst, ob man bereit ist, dich zu beherbergen!?
Ich nahm allen Mut zusammen und klingelte bei wildfremden Menschen an der Tür – an Heiligabend um 22:00 Uhr… Und wirklich wurde mir aufgetan! Ein athletisch gebauter, blonder Mann von etwa dreißig Jahren hörte sich mein “Dschin dobre!” an, wollte aber keine weiteren Erklährungen in Englisch oder Deutsch zulassen: ich solle Polnisch sprechen, machte er mir unmissverständlich klar – und wenn ich das nicht könne, solle ich es lernen! Ich verlegte mich ganz aufs Gestikulieren: mit dramatischem Gesichtsausdruck rang ich die Hände und machte klar, wie dringend ich einen Platz zum Schlafen bräuchte. An seinem Nein änderte das leider nichts. Ich begann fast zu heulen (schauspielerisches Talent brauchte ich dazu nicht: mir war so…), bekreuzigte mich dreimal und verabschiedete mich mit einer Handbewegung.
An der nächsten Kirche das schon gewohnte Bild: großes Pfarrhaus, viele Klingeln – und kein Mensch öffnete.
Gleich darauf eine weitere Kirche: Eine schöne, alte Holzkonstruktion, die, wenn überhaupt noch – dann jedenfalls nicht zu dieser Zeit und Stunde genutzt wurde.
Noch fünf Kilometer weiter:Eine große Kirche, zwar verschlossen, aber außen beleuchtet, sodass für diese Nacht noch mit einer Messe gerechnet werden konnte. – Aber keine Menschenseele in der Nähe und kein Parafia erkennbar. Und weiter ging’s! 50 m hinter der Kirche kam mir dann ein junger Zweimeter-Schlacks entgegen, den ich um Rat fragte. Und tatsächlich wusste der, wo das Pfarrhaus ist!
Es war ein merkwürdiges Gefühl, abends um 23:00 Uhr gleich dreimal an einer fremden Haustür zu klingeln – zweimal machte nämlich keiner auf, obwohl erkennbar Menschen zuhause waren. Ich habe das für mich unter der Rubrik “Übergesetzlicher Notstand” verbucht… Nach dem dritten Läuten hörte ich Schritte auf der Treppe, und ein alter, hagerer Pfarrer und sein wohlbeleibter Kaplan öffneten die Tür. Ich brachte einmal mehr mein Geschichtchen vor; ein reger Austausch zwischen den beiden Gottesmännern entspann sich. Und als die Beratung sich in die Länge zu ziehen drohte, legte ich noch etwas nach: händeringend bat ich “in nomine dei!” um einen Platz für mich und meinen Schlafsack. Vielleicht war es dieses Ins-Spiel-Bringen Gottes, was den Pfarrer dazu bewog, mich kurz und bündig herein zu holen und mir ohne weiteres Fragen ein Abendbrot auf den Tisch zu stellen und einen Tee zu kochen. Mir jedenfalls fiel ein Stein von der Seele – insbesondere, da auch noch eine lebhafte telefonische Aktivität aufkam (man muss dazu sagen: ich hatte beim Eintreten die Stiefel nicht ausziehen dürfen- hier schlafen könne ich auf keinen Fall…) Und wirklich: Etwa eine Viertelstunde später stand ein schlanker Mann von etwa 60 Jahren in der Pfarrküche und forderte mich auf, mitzukommen! Nach kurzem Fußweg an der Kirche vorbei und dann einen unbeleuchteten, halb vereisten, halb “verpfützten” Erdweg entlang kamen wir an das Haus, das mir in dieser Weihnachsnacht zum Obdach werden sollte…
O wie bitter, dass du das, was Kinder im Krippenspiel nachempfinden, als Josef mit Maria von einem Wirt zum nächsten ziehen mussten und keinen Einlass fanden, erleben musstest.In dieser Nacht der Mitmenschlichkeit, der Freude…
“Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir…”- das alte Lied kommt mir in den Sinn und ich sehe, da war Begegnung zwischen Dir und dem geborenen Gotteskind auf Augenhöhe. Möge dir diese Nacht des ewigen Suchens nach einer Herberge nicht zu einer Erinnerung an eine “dunkle Nacht des fast-Verzweifelns” werden, sondern im Rückblick zu einer Nacht, in der du ganz in der Erniedrigung der Obdachlosigkeit von Maria, Josef und dem Neugeborenen anwesend warst und doch nicht verloren gingst.