Nach der Frühstücksüberraschung in Racula ging es gut voran Richtung Nova Sol und Butym Odrzansky, zunächst eine kaum befahrene Landstraße entlang (einige km weiter war sie dann gesperrt – kein Wunder, dass da keiner fuhr). Etwa einen km nach dem Ortsausgang von Racula bekam ich einen Schreck: ich stand plötzlich neben einem prächtigen Pitbull-Terrier, der behaglich zusammengerollt im Gras lag! Nur nicht aufwecken, dachte ich und wagte es nicht, mich zu bewegen… Und auch der Hund rührte sich nicht: Als ich mich schließlich traute, ihn anzufassen, war er kalt und hart! Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so lebendig wirkenden Kadaver gesehen zu haben.
Nach dem gesperrten Teil der Straße und dem Übergang über die Autobahn kam dann ein “verkehrsgünstig gelegenes” Stück Pilgerweg: Stark befahren, nicht sehr breit – und am Rand, da, wo ich eigentlich hätte gehen wollen, fast durchgängig mit einer Asphaltwulst “begabt”, die sich durch Verdrängung als Gegenstück zu den Spurrillen der Straße gebildet hatte. Und dieses Mal war leider auch der Randstreifen nur für sehr “geländegängige” Fußgänger geeignet. Später hatte ich dafür dann ein sehr schönes Stück Wegs (wie übrigens auch das Wetter): Einen langen Abschnitt auf dem Oderdamm, und danach ein kleines Dorf, und Straßen, die immer schmaler wurden, aber auch dann noch Straße genannt wurden, wenn sie sich zu Sand- und Graswegen und schließlich zu mit dem normalen Auto nicht mehr passierbaren Schlammpisten gewandelt hatten.
Schließlich durchquerte ich eine stark an die Mecklenburgische Lewitz erinnernde Landschaft (darüber ein Motordrache seine ratternden Kreise ziehend) und kam, nach netto 31, brutto etwa 35 km in Bytom Odrzansky an.
Die Beine waren noch gut, und die Uhr zeigte kurz vor drei. Was tun? Quartier suchen oder weiterlaufen? Ich entschied mich, Strümpfe und Schuhe zu wechseln und weiterzugehen.
Gegen halb vier, als die Sonne sich anschickte, hinter den Horizont zu tauchen, fiel mir ein, dass heute Shabbat war und ich eigentlich im Quartier ankommen wollte… Bis etwa 16:30 gab es ein postkartenkitschiges Farbenspiel am Himmel – und dann wurde es stressig: Die Straße war immer noch nicht sehr breit, und die Autofahrer zeigten ganz überwiegend, dass ihre Stärken in anderen Bereichen liegen als in der Mäßigung und der Rücksichtnahme…
Als ich schon fast 50 km in den Beinen hatte, hab ich mich endlich an einer Bushaltestelle hingesetzt und mit Heike telefoniert. Wie sich im Anschluss herausstellte, gerade rechtzeitig, um eine Alternativroute gehen zu können, zu der ich 30 m weiter abbiegen musste. 7 km herrlich ruhiger Weg lagen vor mir.
Als ich dann nach gut 55 km in Glogow ankam, war ich ob meiner immer noch einsatzfähigen Beine etwas übermütig und beschloss, nicht zurück zu gehen zur 800 m entfernten Kirche, sondern die Kirche anzupeilen, die 1,5 km weiter hinten auf Kurs Südost lag. Die Strafe folgte auf dem Fuß (im doppelten Sinn des Wortes): Dort angekommen, konnte ich leider niemanden antreffen oder auftreiben, der sich meiner angenommen hätte. So stand ich schließlich da: müde, durchgefroren und mindestens zweieinhalb km von der nächsten Kirche entfernt.
Auf den Weg dorthin machte ich mich nur halbherzig und fragte gleich zu Anfang bei einer Gruppe von jungen Leuten, die rauchend beieinander standen, ob sie mir vielleicht irgendeinen kirchlichen Ansprechpartner nennen könnten.
Einer hörte mir zu. Er wusste zwar niemanden zu benennen, lud mich aber ein, mich im Lokal an den vorhandenen Speisen und Getränken gütlich zu tun, und er versprach mir sogar noch ein Hotelzimmer. Meine Nachfrage, ob das ernst gemeint sei, wies er fast entrüstet zurüch (“Don’t doubt me!”). So saß ich schließlich an Shabbat in Glogau in der Disko…
Als ich ein paar Happen gegessen hatte, verdrückte ich mich unauffällig auf die Toilette, um mich frisch zu machen, einschließlich Füßen, Strümpfen und Schuhen. Wieder zurück bei Wurströllchen und Käseecken, kam ein großer, bärtiger Rausschmeißer (von der Anmutung fast jüdisch oder Russisch; auch Salafist hätte er sein können) auf mich zu und eröffnete mir, ich habe zu gehen. Also schnappte ich mir meinen Rucksack und begab mich wieder nach draußen zu den Rauchern.
Dort traf ich schließlich auch Andy, meinen Gönner wieder. Der war empört und ging, mit Rausschmeißern und Chef zu verhandeln. Nach einigen Minuten durfte ich wieder rein.
Das Problem mit dem Hunger und dem Durst war damit gelöst. Aber nicht die Müdigkeit. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ausgerechnet eine Party die (bislang jedenfalls) größte Herausforderung für mich auf meiner Wallfahrt werden könnte! Ich kämpfte lange gegen die Erschöpfung an. Irgendwann war dann der Tiefpunkt durchschritten – ich konnte nicht nur (mit hohem Willenseinsatz) wieder lächeln, sondern sogar tanzen.
Andy (eigentlich Andrey) hatte mich aufgefordert, mich zu vergnügen bis zum Ende der Party, dann wolle er mir ein Bett im Hotel verschaffen. Das sei polnische Gastfreundschaft.
Ich tanzte zunächst immer nur wenige Minuten, um mich anschließend wieder auszuruhen. Die letzte Dreiviertelstunde hab ich dann durchtanzen können. Und als ich, wie die anderen Gäste auch, das Haus verließ, – da war und blieb Andy verschwunden…
Ich hab mich noch ein wenig mit mehreren Partygästen unterhalten, am längsten mit zwei jungen Männern, die sich für mich und mein Pilgern interessierten. Ein Angebot, meinen Schlafsack an irgendeiner geschützten Stelle ausbreiten zu können, ergab sich daraus bedauerlicherweise aber nicht.
So stand ich um 3:30 also endgültig in Glogau auf der Straße, nach gut 12 Stunden und 57 km Fußmarsch, zwei Stunden vergeblicher Quartiersuche und sechs Stunden Party…
Mein Notfallplan: Mich im “Extremsparmodus” langsam, aber stetig auf den Weg zu machen und zu versuchen, bis um sieben oder acht Uhr durchzumarschieren, um dann im nächsten Pfarrhaus Quartier zu machen.
Mehr als 200 m wurden mir dann aber doch nicht abverlangt. Eine Polizeistreife hielt an, und die ob der Kälte und der fortgeschrittenen Uhrzeit ernsthaft besorgten Beamten (komisch: von meinem ersten Polenbesuch hatte ich die Polizei ganz anders in Erinnerung…) boten mir an, mich ins Obdachlosenquartier zu fahren – nicht ohne noch telefonisch dafür zu sorgen, dass ich dort im (übermäßig) geheizten Aufenthaltsraum und damit im “Einzelzimmer” nächtigen durfte.
Ich habe, wie man sich leicht denken kann, angenommen.
Lieber David, ich bewundere Deine Kondition. Fast 60 km wandern und dann noch eine Nacht Party. Wie schafft man das? Ich habe es ja zuerst kaum geglaubt, als ich anfing zu lesen, aber nachdem ich jetzt rund die Hälfte Deiner Texte durch habe, kann ich mir es tatsächlich immer besser vorstellen, dass Du da nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich erfolgreich sein wirst. Bei ” Extremsparmodus” musste ich lachen – Du lässt Dich offenbar so leicht nicht unterkriegen. Danke, dass Du auch nicht Deine Eindrücke “zensierst” – und auch alle äußeren Beschwerlichkeiten erwähnt werden. Bis hin zu verrückten Hygienesituationen, freundlichen und misstrauischen Gastgebern, zuverlässigen und unzuverlässigen Mitmenschen. Es bleibt spannend. Danke.