Live aus der Abstellkammer!
Heute bin ich in der Landeshauptstadt Cielona Gora angekommen – und gleich durchgelaufen bis ins nächste Dorf: Racula (die Autokorrektur macht Dracula daraus – wie charmant! Warum, erklär ich gleich…).
Nach der langen Ruhepause in Frankfurt und den gemäßigten Wiedereinstiegs-Etappen Vorgestern und Gestern gings mir heute richtig gut. Ein sehr reichliches Frühstück (wie in Ziebingen am Tag . vor, mit heißer Wurst, viel Brotbelag, Salat, Tee, Kaffee, Kuchen) und ein zeitiger Aufbruch kurz nach acht ließen mich die 34 km lange Strecke sehr gut bewältigen. Die rund 6 km Zugabe, die ich gemacht habe, waren noch lange nicht das Ende der Möglichkeiten. Ich hatte aber den Eindruck, dass auf den nächsten 18 km nur noch Gegend und kleine Dörfer kommen… Und hier hab ich leicht die Wohnung des Pfarrers ausfindig machen können: Ich habe in meinem besten Neupolnisch einen Passanten angesprochen:”Pielschüm! Pastor?!?”, begleitet von ungeheuer ausdrucksstarker Gestik. Woraufhin der Angesprochene in fast akzentfreiem Deutsch erklärte, er kenne den Wohnort des Pastors zwar nicht, wolle sich aber für mich erkundigen, und zwar in dem Gemeindehaus, vor dem wir gerade standen…Da ich mir in der Landeshauptstadt Zeit gelassen hatte (Besuch mehrerer Kirchen, McDonalds (free WI-FI) zum Überarbeiten meines letzten Blogbeitrags und schließlich ein satellitengestütztes Verlaufen auf dem nächtlichen Friedhof), ging es auch schon so langsam, aber sicher auf sieben Uhr zu – ich war froh, vielleicht etwas gefunden zu haben, wo ich würde nächtigen können.
Und damit zurück zu “Dracula”: Der Pfarrer im Haus 100 m die Straße zurück reagierte zunächst nicht auf Klopfen und seine automatische Klingel (klingelt von allein, wenn man vor der Haustür ankommt). Nach einigen Minuten stand er dann doch in der Tür: Ein alter, fülliger Mann mit müden Augen und einer eindrucksvollen Kartoffelnase im Gesicht. Meine Geschichte hörte er sich schweigend und ablehnend an. Dann stand er sichtlich unter Druck: er wusste nicht, was er tun sollte. Schließlich bedeutete er mir etwas von Betrügern und Gesindel, um sein Zögern zu erklären.
Ich sah mich genötigt, mein Tagebuch mit den Stempeln aus Cybinga und Krosno Odraz herauszukramen. Das brachte das Fass zum Überlaufen: Er befahl mir, mitzukommen und entfernte sich so schnell, dass ich alle Mühe hatte, mein “Rucksackarrangement” wieder notdürftig transportfähig zu machen und hinterherzustolpern. Wortlos öffnete er mir ein Nebengebäude und wies mir die Räumlichkeiten an, in denen ich nun schlafen kann.
Aussehen tut es dort etwas, ähm, wie soll ich sagen: ursprünglicher?…
Auf diesem Sessel soll ich nächtigen…
Die Klospülung tut jetzt auch wieder: Ich konnte den Kasten mit einem herumliegenden Tafelmesser öffnen und den Mechanismus wieder in Ordnung bringen, sodass meine Hinterlassenschaft doch noch den Weg in die Kanalisation gefunden hat und nicht ungespült in der Kloschüssel übernachten muss.
Es ist Gott sei Dank (!) nicht so kalt, wie es vielleicht aussieht. Es gibt Heizungsrohre mit Blechspiralen drum herum, die nicht gerade heiß, aber auch nicht kalt sind. Wie man sie reguliert, weiß ich nicht.
Zu essen gibts hier leider nichts. Ich bin fast in Versuchung, mich nochmal davon zu machen und im Ortszentrum nachzufragen, ob ich nicht vielleicht…? Da gibt es nämlich eine große Feier in dem “weltlichen Gemeindehaus”, von dem oben die Rede war. Aber dazu müsste ich das Gebäude offenstehen lassen. Ich hab nämlich keinen Schlüssel – die Tür hier hat von innen einen “Schlüssel-Drehknopf”. Oder nochmal Dracula fragen – was nicht ernsthaft in Frage kommt.
Also fasten. Nachdem ich mich im Vorfeld so weit aus dem Fenster gelehnt habe, was den Verzicht im allgemeinen angeht und im besonderen das Risiko, nichts zu essen zu bekommen (siehe die entsprechenden künstlerisch wie soziologisch und psychologisch besonders wertvollen Artikel hier im Blog!) sollte ich mich darüber jetzt ja wohl nicht beklagen, gell?!
Update 22:00 Uhr: Vor etwa einer Stunde hat’s hinten am Haus geklappert, deutlich zu hören über die Heizungsrohre. Und jetzt werden die kalt…
Fortsetzung vom 17.12.16:
Ich hab schließlich ganz gut geschlafen (nachdem ich den Sessel zugunsten meiner Isomatte disqualifiziert hatte). Aufstehen um halb sieben, um 7:10 das Haus verlassen, gestiefelt und gespornt. Ich gehe mit meinem Tagebuch in der Hand zum Pfarrhaus hinüber, bahne mir einen Weg zwischen den sieben(!) Katzen hindurch, die vor der Haustür fressen, und hoffe auf einen Stempel nebst Unterschrift. Die automatische Klingel tut nicht (sicherlich ist sie abgestellt worden wegen der Katzen!). Ich klopfe vergeblich an Tür und Fenster und packe endlich mein Journal unverrichteter Dinge wieder ein. Eine gewisse Vorfreude auf einen echten Fastenwandertag kommt in mir auf, als ich schwungvoll meinen Rucksack schultere.
Zum Abschluss fasse ich dann noch einmal an den Lichtschalter, der am Vorabend keinerlei Wirkung gezeitigt hatte – und es klingelt laut. Kurz darauf kommt Bewegung in das alte Häuschen: “Dracula” öffnet mir und bittet mich mit verblüffender Freundlichkeit zum Frühstück!
So kam es dann doch nicht zu einem Fastenwandern, und meine legendäre Fähigkeit zur Flexibilität und Spontanität konnte sich einmal mehr bewähren.
Der Schlossherr hatte Brötchen, Marmelade, Käse, Frischkäse und Margarine serviert; jetzt kochte er noch Kaffee und haute reichlich Rührei in die Pfanne. Nur die warme Wurst fehlte… Schließlich forderte er mich auf, mir noch ein Brötchen zum Mitnehmen zu schmieren. Und nachdem er mein Tagebuch sorgfältig gestempelt und unterschrieben hatte, schickte er mich mit den besten Segenswünschen freundlichst auf die Reise!
Wie unrecht ich ihm doch wohl getan habe mit meinem Urteil am Abend zuvor…