…daz mouz der sele werden sur.
(W.v. Eschenbach, Parzival, Prolog)
Ich bin immer noch in Antakya. Alt, müde, unbrauchbar. Habe gestern Abend erst zwei Stunden in Kleidern und bei Licht auf dem Bett gelegen und geschlafen, bevor ich mich, gegen 22:30, bettfertig gemacht habe. Und heute Morgen hätte ich auch um kurz vor halb neun noch liegen bleiben können, nur die heilige Messe um 8:30 hat mich zum Aufstehen veranlasst.
Nach dem Frühstück hatte ich dann WLAN- Zugang. Damit war ein später Aufbruch vorprogrammiert – es war einiges aufzuarbeiten. Gegen Mittag bin ich losgestiefelt, aber nicht sehr weit gekommen: Nach etwa zwei Kilometern habe ich mich an eine Bushaltestelle gesetzt – und bin eine gute Stunde später wieder umgedreht. Meine Idee war, aus der Not eine Tugend zu machen und in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde zu kommen. Alternative 1: Die protestantische Kirche. Alternative 2: Die orthodoxe Kirche. 3. Alternative: Zurück zu den Katholiken und Pater Domenico, wo ich gerade herkam.
Ich wusste, wo ich die Synagoge finden würde – und bin doch daran vorbeigegangen, ohne sie zu erkennen. Sie ist jetzt ein kleines Museum. In der Unterhaltung mit einem auf den Bus wartenden älteren Mann erfuhr ich, dass es noch etwa 16 Juden in Antakya gibt. Er selbst spricht (außer den hiesigen Muttersprachen Türkisch und Arabisch) auch Englisch und Deutsch (mindestens). Er meinte, morgen um 11:30 sei Gottesdienst in der Synagoge. Und er bezeichnete sich, schon auf den Bus zugehend, als Atheisten. Als was er geboren wurde, konnte ich ihn nicht mehr fragen.
Ähnlich äußerte sich auch der junge Mann in einem Restaurant, nachdem er mir zu essen und zu trinken gegeben hatte: Er glaube nicht an Gott, aber an die Menschen, und er achte mich und meine Pilgerreise. Sein Kollege hatte mich herein gebeten, ich war der Aufforderung gefolgt und hatte umgehend das “Nicht-Geschäftsmodell” des Pilgerns mit leerem Geldbeutel vorgestellt. Ich habe ja manchmal den Eindruck, dass eine ganz direkte und einfache Gottesfurcht respektiv Vorschriftenfurcht die Menschen dazu veranlasst, mich zu bewirten und zu beherbergen. Hier war es offenbar anders. Der nette Mann brachte mir sogar noch eine Fake-Rechnung und, nachdem ich so getan hatte, als legte ich Geld in die Mappe, ein “Rückgeld”, das allerdings kein Fake war, sondern tatsächlich in der Mappe lag und für mich gedacht war. Er wollte also auch nicht nach außen als Wohltäter in Erscheinung treten. Ob er seine Charity-Aktion mehr vor den anderen Gästen tarnen wollte oder eher vor seinen Kollegen, habe ich nicht erfahren.
Bei den Protestanten habe ich niemanden angetroffen, auch beim zweiten Versuch nicht. Bei den Orthodoxen waren zwar einige Männer da, sie haben aber schon von weitem entschieden signalisiert, die Kirche sei geschlossen. Auf das Lesen meines Pilgerbriefs wollte sich auch niemand einlassen. Bei den Katholiken war ich dagegen auch ein zweites Mal willkommen. So kam es, dass ich bei der heutigen Kreuzweg-Andacht auch eine Kerze anzünden durfte und den Text zur sechsten Leidensstation lesen – auf türkisch…
Meine “zwivel” blieben von all dem im Kern unberührt: Einerseits sagen hier alle, ich könne nicht durch Syrien wandern. Andererseits ist die Macht- und Gebietsverteilung in Syrien derzeit so, dass ich von der türkischen Grenze im Nordwesten bis fast nach Jordanien durchgängig auf Regierungsgebiet wandern könnte und nur ein einziges Mal – eben vor dem Grenzübertritt nach Jordanien – auf Rebellengebiet wechseln müsste. Eigentlich ein überschaubares Risiko… Und doch wird es meinem Herzen ein bisschen sauer: Die Türken, so meine bisherigen Erkundungen, werden mich nicht raus-, die Syrer nicht hineinlassen. Und einem Übergang auf Rebellengebiet werden letztere wohl auch kaum Sympathie entgegenbringen.
Ob es mir gelingen wird, eine Simcard aufzutreiben, die mir das Navigieren per Smartphone ermöglicht? Das werden die nächsten Tage zeigen. Einfach eine zu kaufen würde bedeuten, Geld auszugeben, dass mir dann für die Visa fehlt, spätestens an der jordanischen Grenze jedenfalls.
Ich werde erstmal drüber schlafen. Mein Magen ist mindestens so angeschlagen wie das Herz Parzivals bei Wolfram von Eschenbach. Das ist plausibel – handelt es sich bei mir doch mehr noch um einen Willenskonflikt als um einen des Gefühls. Und eine Entscheidung, wie sie jetzt ansteht, darf einem ja wohl auf den Magen schlagen…
Gewiss, mein Lieber – darf sie!
Und egal, ob Willens- oder Gefühlskonflikt – ist es ratsam, in diesem Zustand überhaupt eine so weitreichende Entscheidung zu treffen? Du hast in den letzten Monaten Dir und Deinem Körper unfassliches abverlangt und geleistet! Drum wünsche ich Dir sehr, dass Dir noch ein paar Tage Erholung vergönnt sein mögen und dir dann eine gute und richtige Entscheidung zuteil werde!
Fühl Dich umarmt
Dein Martin
Lieber Pilger,
als alte Bekannte von Heike habe ich Deine Pilgerreise verfolgt. Sie endete dann hier? Was geschah dann weiter? Ich hoffe instädnigst, dass es eine gute Auferstehungserfahrung geben konnte, auch wenn Du nicht zum Ziel gelangt sein solltest! Ich wünsche Dir alles Gute auf allen weiteren Wegen und Gottes Segen! Ilse