Am Morgen nach der denkwürdigen Polizei(nicht)aktion vom 15.3. fahre ich mit meinem frommen Retter aus der Reifenwerkstatt im Auto los – es geht in die Richtung, aus der ich gestern gekommen bin. Wir fahren zu einem anderen, etwas größeren “Otolastik”. Dort wartet ein Lastwagen mit kaputtem Reifen auf fachmännische Betreuung, und außerdem gibt es Frühstück, für insgesamt sechs oder sieben Mann.
Danach soll es wieder zur Autobahnkreuzung gehen. Dass ich nicht mitfahre, sondern wenigstens von hier aus laufen will, stößt auf wenig Verständnis. Dabei müsste ich eigentlich noch ein paar Kilometer weiter zurück, um wirklich genau dort anzuschließen, wo ich gestern angekommen bin…
Südlich der Autobahnkreuzung beginnt die Straße leicht anzusteigen. Nach einigen Kilometern wird die Steigung immer steiler, und schließlich bin ich mitten in den Bergen angekommen. Ich fotografiere das Schild, auf dem der Name und die Höhe des Passes vermerkt sind:
Ich habe zu diesem Zeitpunkt wohl noch keine 20 Kilometer zurückgelegt. Ich kann aber auf meiner Google-Karte nicht recht erkennen, wann ich wieder auf eine “schlafbare” Ortschaft treffen werde und beschließe, mich in der nächsten Tankstelle zu erkundigen.
Es gibt hier in der “Bergstadt” Ulukisla am Ortseingang eine große Petrol Station mit viel Werbung für Ad Blue undmit erstaunlich viel Personal. Man ist sehr interessiert an meiner “Story”, und der Chef schlägt mir vor, hier zu bleiben, auszuruhen, zu duschen, zu schlafen. Es ist zwar noch recht früh am Nachmittag, aber ich nehme das Angebot an: Es ist kalt in fast 1400 Metern höhe, ich bin mit Schreiben arg in Verzug, und müde bin ich auch. Und wann es wieder eine gesicherte Übernachtung geben wird, ist völlig offen.
Das Duschen findet zwar mit warmem Wasser, aber nicht mit der Brause, sondern mit dem Schöpfbecher statt. Schlafen kann ich im Zimmerchen einer Art Baracke 30 Meter neben dem Tankstellengebäude, ich teile mir den Raum mit Ramazan, einem der Tankstellenarbeiter. Abends ist die Heizung einige Zeit warm, ergänzt wird sie aber wesentlich durch die Elektroheizung, die noch zusätzlich vorhanden ist. Ramazan kocht noch Tee, bevor wir schlafen, und bewirtet mich mit Keksen. Dann wird das Licht ausgemacht, und kurz darauf beginnt Ramazan zu schnarchen…
Morgens ist er um sieben Uhr auf. Ich bleibe liegen, bis er komplett fertig ist und den Raum in seiner “Ad Blue”-Uniform verlässt. Dann stehe auch ich auf, packe meine Sachen, ziehe mich an und gehe an die Tanke zum Frühstück. Später sollte sich noch herausstellen, dass ich ausgerechnet mein edles langärmliges Wollunterhemd bei Ramazan an der Garderobe habe hängen lassen… Viel Zeit habe ich heute nicht zu vertrödeln: Eine 46-Kilometer-Etappe nach Pozanti ist mein Plan. Ich verabschiede mich also von vielen Angestellten, mache mit dem Chef (Geschäftsführer?) noch ein Foto, und dann stapfe ich durch Neuschnee, Sonnenschein und leichten Frost talabwärts.
Ich gehe durch eine eindrucksvolle Berglandschaft. Die Straße selbst ist eine vielbefahrene Lastwagenroute: Die Speditionen wollen wohl die Maut sparen, denn die Autobahn wäre die schnellere Variante. ich werde zwischendrin zum Tee eingeladen.
Einige Kilometer vor Pozanti folgt die Straße den Windungen eines Taleinschnitts durch einen offensichtlich wetterwirksamen Gebirgszug: Ich habe für längere Zeit Wind und Regen von vorne, dabei aber gleichzeitig Sonne von hinten. Schließlich befinde ich mich auf der Südseite der Bergkette, und jetzt ist das Wetter komplett trüb und regnerisch.
Im Außenbereich von Pozanti begegne ich Leyla, einer gut Englisch sprechenden Lehrerin. Sie stammt aus Adana und weiß zu berichten, dass es dort im Sommer unerträglich heiß ist, hier in Pozanti zwischen den Bergen dagegen viel erträglicher. Sie begleitet mich ein Stück weit Stadteinwärts. Dort ereilt mich dann ein weiteres Mal das Schicksal, das mir im städtischen Bereich schon oft begegnet ist: Ich komme zwar mit Menschen in Kontakt, die eine grundsätzliche Hilfsbereitschaft zeigen, diese geht aber nich so weit, dass ich irgendeine kostenlose Übernachtung bekäme.
Ich lande in einem “Hotel”, das über einem Autozubehör-Handel liegt. Ich gehe die Außentreppe hoch; der Regen trommelt auf das Wellblechdach über der Treppe. Die Tür zum Hotel steht offen; auch in den Raum, an dessen Eingang “Recepziyon”steht, ist nicht verschlossen. Darin finde ich einen kleinen Tisch (ohne Stuhl), ein Sofa mit Couchtischchen, und zwei Stockbetten in benutztem Zustand. Es ist weit und breit kein Mensch zu sehen, daran ändert auch mein Rufen nichts. Ich warte, esse eine Kleinigkeit, rufe, gehe noch einmal nach draußen in den Regen, um mehr zu essen zu kaufen, esse, warte – aber es bleibt dabei: Von einem Menschen, der das Hotel betreibt, gibt es keine Spur.
Schließlich frage ich die Nachbarn. Sie machen mir deutlich, dass das Hotel geschlossen sei. Auch im Auto-Zubehörhandel erhalte ich diese Auskunft. Und dort nennt man mir nicht nur die nächste Alternative, sondern bringt mich auch gleich mit dem Auto hin (nur wenige hundert Meter, im kräftigen Regen wären die aber unangenehm gewesen. Dieses sei ein ordentliches, komfortables Hotel, das andere dagegen “piss”. Ich habe BNedenken, des Preises wegen. An der Rezeption erfahre ich, dass es 70 Lira kosten soll. Meine papiernen Wunderwaffen (Pilgerbrief und handgeschriebener Zettel, der “im Namen Allahs” um Essen und Nachtlager bittet) reduzieren den Preis auf 50 Lira – Frühstück inbegriffen.
Abends brauche ich nichts mehr essen. Zu trinken bekomme ich den “Tee der Gastfreundschaft”, dem man hier überall begegnet. Und während ich am Tisch sitze und schreibe, kommen andere Gäste herein, darunter eine Frau, die in mir einen englischkundigen Reisenden vermutet. Es stellt sich heraus, dass sie auf Jagdreise ist, und zwar beruflich: Sie schreibt für Jagdzeitschriften weltweit und bereist dazu die unterschiedlichsten Gegenden in “jagdlicher Mission”. Und: Sie ist aus Deutschland. Zusammen mit ihrem schweizerischen Kollegen Eric und dem Jagdführer Mehmet unterhalten wir uns vor allem über das Pilgern, über den Glauben und über den Gottesbegriff im Christentum und im Islam. Hier ist die Völkerverständigung kein Problem. Mein Ansatz, mich für Frieden und Völkerverständigung einzusetzen, indem ich mir vor Ort anschaue, wie die Menschen leben, reden, denken, fühlen findet allgemeine Zustimmung und Achtung. Mehmet findet ganz besonders wichtig, dass ich betone, dass es nur einen einzigen Gott gibt – denselben für Christen, Moslems und Juden. Er selbst ist gläubiger Moslem, der sich irgendwann verabschiedet – er muss in einer längeren Abendsitzung die Gebete nachholen, die er tagsüber jagend versäumt hat.
Ich bekomme von allen dreien die Telefonnummern und die Zusicherung, mich jederzeit an sie wenden zu können, wenn ich Hilfe brauche. Insbesondere Carina, die Journalistin, betont, dass ich mich auf alle Fälle melden solle, wenn ich in Schwierigkeiten sei: “Wir Journalisten können manschmal Berge versetzen!”, ist sie überzeugt.
Eric hat – kleine, aber für mich sehr interessante, ja spannende Angelegenheit – ein eigenes Büchsenkaliber (eigentlich: eine Patrone) entwickelt beziehungsweise entwickeln lassen; das Kaliber soll für alles Wild auf der Welt einsetzbar sein. Der Geschossdurchmesser ist, wie in manchen Gegenden der Schweiz für die Jagd vorgeschrieben (auch auf kleines Wild wie Murmeltier, Birkhahn und Fuchs), 10,3 Millimeter. Damit sollen Geschosse in Gewichten zwischen 11 und 24,8 Gramm zu verschießen sein – eine riesengroße Spanne, größer, als ich sie von irgendeinem anderen Kaliber kenne. Und: Die Patronenhülse ist eine im Standard-Durchmesser und von der Länge her aus einem Standard-Waffensystem zu verschießen. Dennoch soll die Energie mit dem schweren Geschoss auch für die Jagd auf afrikanische Dickhäuter ausreichen. Ich muss mir die Daten dieser Wunderpatrone unbedingt schicken lassen…(Hintergrund: Ich habe selbst Ideen für die Entwicklung einer Jagdpatrone, allerdings mit ganz anderer Zielsetzung als Erics Projekt).
Carina ist es noch wichtig, zu betonen, mit welcher Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit sie hier behandelt wird und dass von den Vorurteilen gegenüber Moslems, die in Deutschland gepflegt würden, absolut nichts zutreffe. Insbesondere werde ihr als Frau immer und überall mit Achtung und Respekt begegnet. Ich deute an, dass ich letzteres aus meiner Beobachtung heraus nur zum Teil bestätigen kann, verzichte aber darauf, das zu vertiefen. Zu eindeutig scheinen mir die Eindrücke, die Carina gesammelt hat – freilich als zahlender Jagdgast und obendrein als Journalistin, von der man als jagdveranstalter weiß, dass sie weltweit in einschlägigen Fachzeitschriften über ihre Reise und natürlich auch die Behandlung vor Ort berichten wird. Unter diesen Umständen mag es nicht allzu sehr verwundern, dass sie immer und überall äußerst zuvorkommend behandelt wird…
So habe ich an diesem Abend, der zunächst ein einsamer zu werden schien, unerwartet viel Kontakt und Austausch, sowohl mit Einheimischen als auch mit Menschen aus meiner Heimat, sogar in meiner Muttersprache und über Themen, die auch zuhause längst “eingemottet” waren.
Und: Der nächste Tag glänzt mit strahlendem Sonnenschein, herrlicher Fernsicht und einer strammen Nordwestströmung, also für mich: Rückenwind!