Ich bin unterwegs zu einem “Doppeldorf”, links Yeniköy und rechts der Straße Acikuyu. Es ist Mittwoch, der 15.3. – morgen hätte ich eigentlich in Adana sein wollen. Die Straße ist bolzengerade – ich sehe die Dörfer seit zwei Stunden und bin immer noch nicht da.
In welchem der beiden Orte soll ich damit beginnen, ein Nachtlager zu suchen? Das rechte ist etwas kleiner, die Moschee viel näher an meiner Straße. Ich beschließe, es dort zuerst zu versuchen. Es bliebe gegenbenenfalls noch Zeit, ins andere Dorf zu wechseln.
Am Vorabend hatte mein Eintreffen in Obruk eine rege Aktivität und viel Aufmerksamkeit erregt: Auf die Rufe “Turrist, Turrist!” war Groß und Klein zusammengeströmt, um mich zu begutachten und mir beim Essen und Teetrinken zuzusehen. Das ist hier ganz anders: Man scheint mir geradezu aus dem Weg zu gehen. Es gelingt mir nicht ein einziges Mal, jemanden auch nur zu grüßen; dabei ist das Dorf durchaus bewohnt: Überall gibt es Schafe und Rinder in den Höfen und Ställen. Doch zu sehen bekomme ich nur zwei Frauen, und die verschwinden sofort im Haus, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Also heißt es: Schnell verlässt er diesen Ort und begibt sich weiter fort…
Die Abendsonne habe ich jetzt im Rücken. Das Dorf Yeniköy wird voll angestrahlt – der Hintergrund ist eine bleigraue Wolkenwand. Das sorgt für eine geradezu unwirkliche, theaterartige Beleuchtung.
Beim Gang die Dorfstraße entlang ahne ich schon: Ich werde es auch hier nicht leicht haben. Die Situation ähnelt der von gerade eben: Weit und breit ist niemand zu sehen.
In der Nähe der Moschee treffe ich endlich einen Mann an; er ist damit beschäftigt, Tierfutter in eine Schubkarre zu schaufeln. Leider zeigt er sich unzugänglich… Immerhin ist die Moschee offen – das war im Nachbardorf anders gewesen. Ich gehe hinein und bete, und als ich wieder heraus komme, hält ein Auto neben mir. Der Fahrer stellt die Standardfragen nach dem Woher und Wohin. Ich präsentiere meinen “Bettel-Zettel” und habe alsbald den Eindruck, ein gewissen Unwillen bei meinem Gegenüber spüren zu können.
Jetzt kommt auch noch ein Mann aus dem Haus gegenüber dazu – der Imam: Das Abendgebet steht an. Der Autofahrer prüft meinen Ausweis, dann sagt er, er bringe mich jetzt zur Polizei. Der Imam scheint anderer Auffassung zu sein, doch er kann jetzt nicht weiter tätig werden, er muss seines Amtes walten. Der Autofahrer drängt: Die Polizei werde mir helfen.
Ich steige ein, und wir fahren zurück zur Fernstraße. Dort bekomme ich an der Tankstelle drei Sesamkringel (sehr lecker) und eine Dose mit Pfirsichnektar. Dann fahren wir weiter. Und weiter. Und weiter… Schließlich biegen wir ab auf die Autobahn. Nach vielleicht zwölf bis fünfzehn Kilometern halten wir an einer Art Armeestützpunkt. Nach kurzer Erklärung meines Begleiters an den Wachhabenden werden wir eingelassen, müssen im Wachhäuschen die Handys abgeben, und mein Rucksack wird gefilzt. Einer der Soldaten (oder sind es doch Polizisten?) kann ganz gut Englisch; er spricht mit einem typischen ” Wolfsrachen-Akzent”. Ich muss erklären, woher ich komme und wohin ich gehe, und es wird gefragt, wie ich sonst so übernachte. Ich erkläre alles, und jetzt fragt mich der Gaumenspaltenmann, was ich mir wünsche – ich sei eingeladen.
Ich zeige mich hoch erfreut. Wichtig sei für mich eine Übernachtung, versuche ich zu verdeutlichen. Man verspricht mir zusätzlich Essen. Wir gehen jetzt ins Haus und legen im Flur vor der Küche eine weitere Warteetappe ein. Mehrere sehr junge Männer sind auch dabei. Man will wissen, ob ich die Türkei gut finde, und man betont immer wieder, wie großartig die Polizei sei und dass man mir helfe.
Und dann ist der Mann mit dem Akzent wieder da. Er sagt mir jetzt, das mit der Übernachtung sei ein Problem. Ich sei nicht eingeladen. Ich hoffe, mich verhört zu haben, doch er meint es ernst: Sie alle würden mir liebend gern helfen, aber der Kommandant habe es untersagt, dass ich hier schliefe.
Ich rede mir kurz auf Deutsch den Frust von der Seele. Der Wolfsrachen interveniert aber sofort und verlangt, dass ich auf Englisch umstelle. Nun, das tue ich. Ziemlich ungehalten versuche ich zu verdeutlichen, dass ich jetzt, um diese Uhrzeit, bei Dunkelheit und weit weg von der Moschee und der Tankstelle, an der ich ins Auto komplimentiert wurde, keinerlei Möglichkeit sähe, eine Alternative aufzutun. Man habe mir versichert, die Polizei helfe mir!?!
Daraufhin heißt es erstmal wieder: warten. Erst im Flur, dann draußen im Wachhäuschen. Die “Jandarma” werde kommen und sich um mich kümmern, wird mir wieder und wieder versichert. Ich antworte, ein ums andere Mal, mit “Inshallah!”.
Auf die Polizei will man jedenfalls nichts kommen lassen: Als sich nach längerem Warten auch die Hoffnung auf die Jandarma zerschlagen hat, hält man auch weiter die Fahne hoch: Ein Zivilpolizist werde mir helfen…in etwa fünf Minuten.
Aha. Man scheint jedenfalls gut versorgt mit Polizei: Jandarma, Militärpolizei, Trafik Polis, und jetzt also: Zivilpolizei. Sie wird mir helfen. Jedenfalls, so Gott will – inshallah.
Er scheint aber nicht zu wollen: Der Mann, der mich hergebracht hat, ist auf einmal wieder da. Er fordert, dass ich mich bedanke bei einem Mann, den ich noch nie gesehen habe und der jetzt plötzlich neben mir steht. Es könnte der Kommandant sein. Dann fahren wir zurück in Richtung Yeniköy.
Als wir die Autobahn hinter uns gelassen haben und auf die “Bundesstraße” auffahren, beschleunigt der Fahrer nicht, sondern hält an. Er reicht mir zum Abschied die Hand und greift über mich hinüber, um mir die Tür zu öffnen… Meine entgeisterte Nachfrage, was ich denn hier solle, beantwortet er mit Schulterzucken und murmelt irgendwas von “Hotel”, dabei zeigt er auf die Tankstellen und das Restaurant hinter uns.
Ich wuchte meinen Rucksack aus dem Auto, murmel meinerseits irgendwas von “Mashallah!”, klappe die Tür zu und wandere in die angegebene Richtung.
Dort finde ich: Tanke, Autowerkstätten, Restaurant, leerstehende Gebäude – aber kein Hotel. Ich gehe ins Restaurant, frage vergeblich nach einem englisch- oder deutschkundigen Menschen und präsentiere meinen “psychologischen Nahkampfzettel”, den mir Abdul’vali in Serefiye geschrieben hat und auf dem steht, dass ich im Namen Allahs um ein Nachtlager bitte – diesmal allerdings vergeblich. Man würde mir wohl etwas zu essen zukommen lassen, aber eine Übernachtung kann oder will man mir nicht anbieten.
Bevor ich mich in Richtung Ausgang wende, schaue ich mich noch einmal hilfesuchend im Lokal um. Einer der Gäste geht gerade, und als sich unsere Blicke kreuzen, winkt er mir mit dem Kopf, ihm zu folgen.
Er besitzt direkt nebenan eine “Otolastik”, zu Deutsch etwa “Auto-Gummi”, wie hier die Reifenwerkstätten genannt werden. Dort schläft er in einem Hinterzimmer, in einem Stockbett, dessen obere Etage frei ist und mir in dieser Nacht eine Ruhestätte bietet.
Wir unterhalten uns noch eine Weile über Gott und die Welt (wenn ich auf das Handy schaue, während mein Gesprächspartner das Türkische eintippt, kann ich viel besser raten, was er meint!), dann breitet er seinen Gebetsteppich aus und verrichtet seine geistliche Arbeit. Ich bete im Bett – Einschlafprobleme habe ich heute keine…
Allahu Akbar! Oder, wie Navid Kermani zu sagen pflegt: Gott ist größer!