Incesu ist ein kleines Städtchen im Kreis Aksaray im Herzen der Türkei. Ich wollte es eigentlich “links liegen lassen”, im wörtlichen Sinn (auf südöstlichem Kurs westlich vorbei gehen). Das Fehlen einer örtlichen Alternative zum Übernachten brachte mich dann aber doch dorthin.
Ich wurde gastfreundlich aufgenommen: Erst der fast obligatorische Tee im Teehaus, diesmal sogar auch noch, quasi hinter vorgehaltener Hand, das “unmoralische Angebot”, ein Bier oder einen Schluck Schnaps zu trinken. Dann hat mich ein älterer, des Deutschen mächtiger Herr zu einem “Döner-Ekmek” eingeladen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt die Idee, noch 10 Kilometer weiter zu gehen in die Richtung, die mir der Routenplaner vorgeschlagen hatte – nach Osten. Eine genaue Prüfung der Karte ließ mich aber zu dem Schluss kommen, dass das für mich keinen nennenswerten Vorteil bringen würde: Ich müsste dann am folgenden Tag ausschließlich die große Autostraße entlang gehen. Und zwar praktisch genauso weit, wie ich sonst auf kleinen Dorf-Verbindungssträßchen zurücklegen würde.
Ich ging also wieder zurück auf den Dorfplatz und erklärte den dort Anwesenden meinen Entschluss – und die daraus folgende Notwendigkeit, ein Nachtlager zu finden.
Nach kurzer Beratung hielt man ein gerade vorbeikommendes Auto an, und ich wurde dreihundert Meter weit zu einer Moschee gefahren (wovon es hier mindestens vier gibt…). Die Zeit, in der mein Begleiter und ich auf den Imam warten mussten, testeten die Söhne des Gottesmannes meine Fußballfertigkeiten. Die sind, sagen wir: ausbaubar. Dann kam der Imam, und ich wurde in einem Raum direkt an der Moschee einquartiert, der als eine Art Dorf-Gemeinschaftsraum genutzt zu werden scheint – und entsprechendes geschah alsbald auch an diesem Abend. Eine ganze Reihe überwiegend junger Männer fand sich ein, ein alter Würdenträger stattete (mir? dem Imam und den übrigen Anwesenden? dem Raum?) ebenfalls einen Besuch ab; ein oder zwei der jungen Leute begrüßten ihn mit Handkuss. Sehr tiefgehend war die “Unterhaltung”, die ich mit der Männerrunde über Google Translator führte, nicht, aber es reichte, um eine gewisse Orientierung über die persönlichen Verhältnisse herzustellen. Einer, achtzehn oder neunzehn Jahre alt, wollte vor allem ganz genau wissen, wieviel Kindergeld man in Deutschland bekommt…
Man interessierte sich auch für meinen Personalausweis, unterließ es aber, ihn polizeilich überprüfen zu lassen – das findet sonst fast immer zu Beginn meiner Unterbringung statt.
Gegen neun, viertel zehn löste sich die Versammlung auf, und ich konnte ins nebenan gelegene “Bayan-WC”, die Damentoilette, gehen – die hat nämlich eine Dusche. Deshalb hatte mich der Imam angewiesen, meine Körperpflege hier zu verrichten. Außerdem ist da ein Sitzklo eingebaut, was zwischendrin eine willkommene Abwechslung für einen verwöhnten, alten West-Mitteleuropäer bedeuten kann…
Die Dusche besteht, wie ich das auch in den osteuropäischen Ländern fast durchweg erlebt habe, aus einer Wannen-Füllarmatur, die an der Wand des WC-Raums installiert ist und über den vorhandenen Bodenabfluss entwässert. Dass es eine Wannen- und keine Duscharmatur ist, war hier von Vorteil: Auf Dusche gestellt, kam nämlich kein Wasser aus der Brause… Aber ich konnte mich unter den Wannenstutzen kauern und waschen.
Der Gemeinschaftsraum, in dem ich es mir mit den vorhandenen Matratzen gemütlich machte (sie dienen hier wie überall in der Türkei als Boden-Sitzgelegenheiten), war über einen Kanonenofen gut geheizt. Ich verbrachte noch einige Zeit mit Schreiben – und damit, endlich meinen Facebook-Account klar zu machen. Von den Leuten, die ich hier in Türkiye kennen gelernt hatte, haben das gleich ein paar mitbekommen und mir Freundschaftsanfragen gesandt. Darunter war auch einer, der auf seinem Profilfoto mit Uniform zu sehen ist, an den ich mich aber nicht mehr genau erinnern kann (eigentlich gar nicht…). Er lud mich ein, mit ihm über Facebook-Messenger zu chatten. Der Download, den mir Facebook zu diesem Zweck vorschlug, funktionierte aber nicht.
Um Mitternacht begann ich, mir am Spülbecken in der Kochnische die Zähne zu putzen. Plötzlich hörte ich die äußere, die Stahltür aufgehen, und direkt danach die Tür zu meinem Schlafraum. Ich drehte mich um, die Zahnbürste noch im Mund, und sah den Imam hinter mir stehen. Ich beendete die Zahnpflege, trocknete mir hastig den Mund ab und wandte mich in Richtung Tür; erst jetzt wurde ich gewahr, dass dort ein Beamter von der “Jandarma” stand.
Alsbald wurde nach meinem”Passaport” verlangt. Ich kramte meinen Personalausweis heraus, musste aber feststellen, das man sich damit diesmal nicht zufrieden geben wollte: Mehrmals wurde die “Befehlsfrage” nach dem in diesen bewegten Zeiten so (über-)lebenswichtigen Dokument wiederholt, und nicht gerade in steigender Freundlichkeit.
Endlich erging an mich der mit eindeutigen Gesten begleitete Befehl, meinen Rucksack an die Türschwelle zu bringen und auszupacken (die Jandarmen wollten ihre Stiefel nicht ausziehen, respektierten aber die Würde des Raumes, der ja zur Moschee gehört, und betraten ihn nicht mit ihrem Dienstschuhwerk).
Ich tat, wie mir geheißen und beförderte meine sieben Sachen eine nach der anderen ans nächtliche elektrische Licht. Möglicherweise hat man es mir aber angemerkt, dass ich heute nicht dazu aufgelegt war, vor der Obrigkeit zu kriechen…
Draußen war es inzwischen recht kalt geworden. Als der Rucksack “abgearbeitet” war und die alte Frage nach dem “Passaport” wieder aufkam, versuchte ich, deutlich zu machen, dass ich die Wärme im Raum nicht gänzlich nach draußen entschwinden lassen wollte und versuchte, die Stahltür zu schließen. Leider leistete der zweite Jandarm, der dort stand und der die ganze Aktion mit der Maschinenpistole im Anschlag begleitet hatte, diesem Ansinnen sanften, aber sehr bestimmten Widerstand… So blieben beide Türen noch eine Weile offen stehen, während ich mit zunehmendem Unmut darauf hinzuweisen versuchte, dass mein Perso an der Grenze als Ausweisdokument ausreichend gewesen war und damit eigentlich auch im Landesinneren akzeptiert werden sollte!?! Den gestempelten Einreisezettel hatte ich auch hier, wie immer, gleich mit vorgezeigt. Doch mit Argumenten hatte ich hier keine Chance: Schließlich erging an mich der Befehl, meine Kleider anzuziehen und mit nach draußen zu kommen.
Dort stand seit geraumer Zeit das Polizeiauto mit blinkendem Blau- und Rotlicht in der Nacht. Insgesamt vier Beamte der “Jandarma” kümmerten sich jetzt um meinen Ausweis und das Begleitpapier vom Grenzübergang Malko Tyrnovo. Man diskutierte, telefonierte – und schickte mich schließlich wieder zurück in “meinen” Gemeinschaftsraum. Ich wusste zwar nicht genau, was das jetzt hieß – ob ich mich schlafenlegen konnte oder ob ich meine Sachen holen sollte, um mitzukommen -, entschied mich aber dazu, die Gesten des Oberjandarmen im ersteren Sinn zu interpretieren. Ich war zuversichtlich, dass man es mir schon mitteilen würde, wenn ich mich damit im Irrtum befinden sollte.
Das war dann aber nicht der Fall – obwohl es noch eine geraume Zeit dauerte, bis der Spuk vorbei war und das Polizeiauto verschwand. Das geschah, ob man es glauben möchte oder nicht, genau um 1:00 Uhr…
Der Imam kam noch einmal herein und sagte mir, dass alles “tamam”, o.k. sei. Dann begann der erholsame Teil der Nacht für mich.