Jerusalem, das Ziel meiner Reise, wird hier Kudüs genannt. Wenn ich gefragt werde, was ich hier in der Türkei mache, sage ich immer, dass ich ein Pilger aus Deutschland bin. Das stößt allgemein auf Interesse, oft auf verwunderte Anerkennung. Man zeigt sich offen, gesprächsbereit, nah.
Und dann nenne ich die erhoffte Endstation meiner Hadsch – und kann sehen und fühlen, wie in den Menschen eine Wandlung vor sich geht. Die Leute gehen auf Abstand. Ihre freundlichen Gesichter verfestigen sich, ein vielleicht vorhandenes Lächeln erstirbt. In der Regel folgt ein Austausch unter den Anwesenden auf Türkisch, und dann trägt einer von ihnen die Frage an mich heran, warum ich denn nach Kudüs wolle.
Mit Hilfe des Google Translators (wenn Turkcell das Netz bereitstellt und Google gerade geruht, erreichbar zu sein) stelle ich dann dar, daß Kudüs für Christen etwas ähnliches ist wie für Moslems Mekka: Der heiligste Ort der Welt.
Manche Menschen scheinen das noch nicht einmal gedanklich nachvollziehen zu können: Sie fragen im Laufe des Gesprächs (oder des Google-Austauschs) noch das eine oder andere Mal nach, was ich denn in Israel tun will. Oft ist es aber auch so, dass man die hinter meiner Pilgerfahrt stehende Idee begreift. Emotional allerdings bleibt man auf Abstand.
Vorgestern, am Samstag, den 4.3., habe ich in Polatli einen Ruhetag eingelegt. Es war ein bisschen was zusammengekommen: Ich fühlte mich grundsätzlich müde; mein linker Fuß hatte erstaunlicherweise ein, zwei Blasen entwickelt; es bot sich an, mal wieder etwas mehr Wäsche zu waschen; ich war mit dem Schreiben im Rückstand; und ich hatte das Gefühl, die Begegnung mit den Nazi-Buben von der Polizei in Ruhe verdauen zu wollen. So kam es denn, dass ich mich erst gestern wieder auf den Weg gemacht habe.
Nach eineinhalb Stunden hatte ich das Dorf erreicht, in dem mich die hitlerverehrenden Gendarmen ins Auto geladen hatten. Von nun an ging es also wirklich vorwärts…
Zunächst war auf der Landstraße sehr wenig Verkehr. Hier und da ein Lastwagen, einige PKW, das war’s. Gegen Mittag wurde es dann ein wenig mehr. Fast alle Fahrer hupen hier, wenn sie an mir vorbeifahren – daran habe ich mich immer noch nicht so recht gewöhnen können. Es stört mich besonders dann, wenn die Hupe sehr laut ist und das Auto nah.
Man merkte, dass es Sonntag war: Viele Autos waren mit fünf und mehr Personen besetzt. (Ich habe noch nicht so recht in Erfahrung bringen können, wie das hier mit den Ruhetagen ist. Am Freitag wird wohl weitgehend gearbeitet – Freitagsgebet hin oder her. Und viele Geschäfte machen von Samstag Nachmittag bis Montag Morgen zu.) Man schien Ausflüge zu machen und sich gegenseitig zu besuchen. Viele Autos hielten neben mir, und die Leute wollten mich mitnehmen (wenn sie noch Platz im Auto sahen) oder auch nur wissen, woher ich käme und was ich hier wolle.
Einer der Autofahrer schien unentschlossen zu sein: Er verlangsamte seine Fahrt stark, fuhr aber zunächst an mir vorbei. In einiger Entfernung stoppte er dann doch. Und als ich herangekommen war, sah ich, dass er telefonierte. Wir grüßten uns – und ich bekam das Telefon in die Hand: Der Fahrer hatte seinen Schwiegersohn angerufen. Der konnte nämlich Englisch. Und stellte fest: “You are walking around in the middle of nowhere – why?!”
Ich erklärte meinem Gesprächspartner also artig, warum ich in der Mitte von Nirgendwo spazieren gehe. Und: Diesmal gab es so etwas wie ein emotionales Verständnis für mein Projekt – wenn auch nur indirekt. Denn der Englischsprecher hinterfragte mein Vorhaben nicht, sondern bat: “Beten Sie für uns, wenn Sie in Jerusalem sind!” Das habe ich umgehend versprochen. Für die Türken, die Kurden, die Syrer, für Christen, Moslems, Juden. Für Europa, den Nahen und Mittleren Osten, und für die ganze Welt.
Leider habe ich versäumt, ihn über sich selbst genauer auszufragen. Das hätte interessant werden können.
Heute habe ich noch ein paar Praxisproben des anfangs Geschilderten gesammelt. Ich konnte weitestgehend bestätigen, was ich schon erfahren hatte. Zusätzlich schien mir heute auch noch das Bekenntnis, aus Deutschland zu kommen, den Leuten Missbehagen zu verursachen. Es darf vielleicht spekuliert werden, dass es mit der aktuellen politischen Situation und ihrer Darstellung in den türkischen Medien zu tun haben könnte… Jedenfalls haben mindestens drei oder vier meiner Gesprächspartner mich sofort mit kürzesten Worten und Gesten weitergeschickt, nachdem ich mich als deutscher Jerusalempilger geoutet hatte.
Aber nicht alle: Einer bot mir Tee und etwas zu essen an. Es stellte sich dann bei Tisch heraus, dass er Kurde ist.
Das scheint mir die Solidarität unter den Ausgegrenzten zu sein.