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Am Sonntag, den 19.2.2017 komme ich endlich von Istanbul weg – jedenfalls von der Altstadt. Ich setze mit der Fähre von Besiktas nach Kadiköy über: Die Brücke ist der vielen Selbstmörder wegen nicht mehr für Fußgänger passierbar. Dann geht es in östlicher Richtung weiter.
Nun führt mich mein Weg am nordöstlichen Ausläufer des Marmarameers entlang. Die Gegend, durch die ich mich bewege, ist offensichtlich eine gute. Wo werde ich in der Nacht schlafen können? Aufgebrochen bin ich erst am frühen Nachmittag, und dann hatte ich noch einen ordentlichen Fußmarsch bis Besiktas – Karaköy wäre näher gewesen…
Ich beschließe, mein Glück diesmal bei einer Moschee zu versuchen. Bei der ersten treffe ich niemanden an, bei der nächsten ist ein Teehaus mit Bibliothek integriert – es sind mehr als ein Dutzend Männer da. Allerdings komme ich mit kaum jemanden gleich in Blickkontakt – das ist sonst in den Teehäusern anders. Einer erwidert schließlich meinen Gruß; er sitzt draußen auf der Bank. Ich stoße dazu, erläutere, wo ich herkomme, wo ich hin will und dass ich eine Übernachtungsmöglichkeit suche. Ich bekomme erstmal einen Tee. Der mich eingeladen hat, verschwindet nach oben, Richtung Gebetsraum. Dann ruft schon bald der Muezzin – und auf die auffordernden Gesten eines der Männer gehe ich mit und bete zum ersten Mal das offizielle Gebet in einer Moschee mit.
Es hat für mich etwas fast militärisches, wie wir uns alle bewegen und im “Gleichschritt” niederknien, uns mit dem Kopf auf den Boden neigen, wieder aufstehen… Man unterwirft sich einem Höheren, und man leistet gehorsam, so mein erster Eindruck.
Leider verabschiedet sich mein “Teesponsor” bald nach dem Gebet. Ich komme jetzt mit einem Mann ins Gespräch, der zu einer Gruppe von Männern gehört, die auf mich einen gebildeten und etablierten Eindruck machen. Er spricht Englisch und übersetzt zwischendrin immer wieder für seine Kameraden, was ich sage. Er empfiehlt mir, den Koran zu lesen; das Exemplar, das ich aus der Blauen Moschee mitgebracht habe, findet bei ihm und seinen Freunden Zustimmung (es komme sehr auf die Überstzung an, werde ich aufgeklärt). Taifun, so der Name meines Hauptgesprächspartners, ist zuversichtlich, dass ich mich zum Islam bekehren werde, wenn ich die Wahrhaftigkeit und Schönheit dieser Heiligen Schrift erst richtig erkannt habe.
Allerdings wird meine Reise und insbesondere der Beschluss, ohne Geld loszuziehen, in der Gruppe recht offensiv hinterfragt: Man möchte wissen, wie wohl ein Türke in Deutschland aufgenommen werden würde, wenn er wie ich einfach dahergelaufen käme und nach Gastfreundschaft fragte… Meine Hoffnung, über Taifun an ein Nachtlager zu kommen, erfüllt sich (es war nach dem Verlauf des Gesprächs schon zu befürchten gewesen) nicht: Nach längerem Sitzen, Teetrinken und Abwarten verabschieden sich alle. Als ich mir erlaube, nochmal kurz nachzuhaken, bekomme ich den Hinweis auf eine sehr kleine Kirche, etwa einen Kilometer zurückliegend in Richtung Westen. Außerdem fünf Lira, etwa 1,30 Euro – der Chickendöner, den mir der Ökonom (denn als solcher hat Taifun sich herausgestellt) kommen lassen wollte, war ausverkauft.
Ich ziehe also los in die hereinbrechende Nacht. Statt eines Snacks an der Dönerbude kaufe ich mir ein Ekmek, eines dieser spitzen Weißbrote, und ein Pfund Halva – wenn ich die richtige Sorte nehme, reichen die 5 Lira dafür. Und als ich aus dem Laden komme, steht Taifun, der Wirtschaftswissenschaftler, mit dem Auto da und bringt mich zur Kirche. Er ist nämlich zu dem Schluss gekommen, dass sie so klein und versteckt sei, dass ich sie sonst nicht finden werde.
Dort angekommen, stellt sich heraus, dass es eine evangelische Kirche ist – gut “eingebettet” zwischen den Häusern, und mit einem Zaun und verschlossenem Tor versehen. Dass auf mein Klingeln niemand öffnet, verwundert mich nicht: Bei der Größe dürfte wohl kein Pfarrer dort wohnen.
Jetzt ist guter Rat teuer… Ich frage ein wenig herum in Geschäften, Lokalen und auf der Straße und erfahre, dass es Hostels oder Pensionen hier nicht gebe – das sei eine “expensiv area”.
Ich setze mich erst einmal an eine Bushaltestelle, um auszuruhen und zu überlegen…Zum Islam übertreten werde ich in den nächsten Stunden nicht, soviel steht fest!
Schließlich bin ich drauf und dran, einfach weiterzuwandern, gebe aber vorher noch dem Impuls nach, im Köfterestaurant gegenüber einen letzten Versuch zu machen, Hilfe zu bekommen. Und tatsächlich zeigen sich die jungen Leute dort deutlich aufgeschlossener als Taifun und seine Kumpel (er selbst ist übrigens in meinem Alter und Rentner…). Man überlegt, telefoniert, schaut im Internet nach und gibt mir zu essen und zu trinken. In der Übersetzung durch Google, in der man mir letztlich präsentiert, was man für mich arrangiert hat, ist von “weißer Polizei” die Rede; das Wort Polizei will der Wirt aber nicht stehenlassen und deckt es mit dem Finger zu. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Abgeholt werde ich von zwei Männern, die sowohl Polizisten als auch städtische Bedienstete sein konnten, mit einem Kleinlaster mit Pritsche und Doppelkabine; auch eine Blau- und Rotlichtanlage hat er auf dem Dach. Dann geht es los, und ich werde zu einem Grundstück mit hohem Zaun und breitem elektrischem Schiebetor gebracht.
Ich habe bis zum Aufbruch am nächsten Vormittag nicht so richtig herausbekommen, was für eine Einrichtung es denn nun war, in der ich die Nacht verbracht habe: Es schien aber so eine Art Schullandheim zu sein. Ein größeres Gebäude mit Küche und Speisesaal dient offensichtlich unter anderem der Verpflegung städtischer Müllarbeiter. Die kleinen Gebäude drum herum sind um diese Jahreszeit ungenutzt. Und ein dreistöckiger Block, der sich ebenfalls auf dem Gelände befindet, ist mit Vierbettzimmern (eiserne Stockbetten) und Bädern sowie Toiletten für jedes Zimmer ausgestattet.
Es wirkte auf mich alles sehr stillgelegt; das Haus war kalt, und im Flur standen zwei Eimer, die das Wasser auffingen, das durchs Dach tropfte. Doch der Schein trog: Die Polizisten, die mich dort in einem der Zimmer unterbrachten, holten mir nicht nur Decken und Kopfkissen, sondern brachten auch einen Heizungsdrehknopf sowie einen Entlüfterschlüssel mit – und die Heizung wurde sofort warm. Erfreulicherweise galt das auch für das Wasser, wenn man es lange genug laufen ließ. So stand also dem nächtlichen Duschen und Wäschewaschen nichts im Wege.
Man gab mir noch die Anweisung, um 9:00 Uhr zum Frühstück zu kommen und den Hinweis, ich brauche keine Angst zu haben, es sei niemand da außer mir. Mein akustischer Eindruck nachts und am Morgen war aber ein anderer, und nach dem Aufstehen stellte sich dann heraus, dass auch noch eine fünfköpfige Familie in diesem Block übernachtet hatte…
Frühstück gab es dann erst um 9:30, zusammen mit der Familie und einigen Männern von den “städtischen Dienstleistungen”. Es zog mich allerdings auch nicht gerade heftig nach draußen: Es regnete fast ununterbrochen, und das sollte an diesem Tag auch noch eine ganze Weile so bleiben.