Noch nicht revidiert!
Orhan habe ich im Kaffee in Kirklareli getroffen. Ich hatte einigen Anwesenden mühsam versucht, verständlich zu machen, wer ich sei und was ich wolle, und dann meinte er, ich könne eine Nacht in seinem Haus schlafen. Orhan ist von mittelgroßer Statur, sehr schlank, fast mager. Später habe ich erfahren, dass er eben erst aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Berührungsängste mit der türkischen Polizei schien er aber nicht zu haben: Wir konnten das Kaffeehaus erst dann gemeinsam verlassen, als die Polizei mich überprüft hatt; er hatte sie angerufen.
Wir hatten zwei Kilometer zu gehen. Unterbrochen wurde unser Marsch an einem Dönerrestaurant, in dem wir jeder eine Dönerrolle aßen und zwei, drei kurdische Freunde trafen.
Orhans Wohnung lag ganz im Randbereich der Stadt. Es handelte sich nicht etwa um eine Bruchbude: Ein vier-, fünfstöckiger Block, recht neu und in bestem Zustand, auch und gerade im Inneren. Die Bauausführung so, wie ich sie auf meiner Reise bislang selten gesehen habe: Nahezu perfekt. Es wohnen dort mehrere Familien seiner Verwandtschaft. Neben Orhans Frau war noch eine zweite Frau in der Wohnung anwesend, wohl seine Schwester. Im Laufe des Abends kamen noch zwei Frauen dazu, und schließlich auch die Mutter Orhans. Fünf, sechs Kinder, zwei davon meinem Gastgeber angehörend, waren schließlich mit von der Partie.
Wir tauschten uns – im Rahmen der sehr begrenzten Möglichkeiten – über die Politik in der Türkei, in Deutschland und Europa aus. Der Google-Translator war ständig gefordert (und natürlich überfordert. Es ist schon erstaunlich, wie rattenschlecht so ein Programm immer noch funktioniert, nachdem es Jahre am Markt ist und milliardenfach genutzt wird).
Die Vorwürfe, die man Orhan von staatlicher Seite macht, fußen auf einer Presseerklärung, die er vor etwa einem Jahr abgegeben hat. Daraus wurde eine ganze Litanei an juristischen Anklagen erstellt. Nach jetzt schon elf Monaten Gefängnis brach Orhan am Morgen mit mir gemeinsam um kurz nach acht Uhr auf, um pünktlich bei einer seiner Gerichtsverhandlungen zu sein.
Die beiden Söhne des Hausherrn sind jedenfalls nicht abgeschreckt durch den Gefängnisaufenthalt ihres Vaters: Die Aussage: “Mein Kind geht für die kurdische Sache ins Gefängnis. Mein Kind ist bereit, für die kurdische Sache zu sterben!” hat jedenfalls der ältere, vielleicht Zwölfjährige mit leuchtenden Augen kommentiert.
Die Verabschiedung zwischen Orhan und mir war eine ganz besonders herzliche. Wir wussten beide nicht, ob Orhan von der Verhandlung wieder nachhause käme oder ob er gleich im Gerichtssaal verhaftet würde. Und im Hinterkopf hatte ich die Bilder seiner Freunde, die er mir am Abend vorher gezeigt hatte. Einige von ihnen sind jetzt im Gefängnis, andere tot.
Die Erfahrung, mit Menschen zusammenzutreffen, die bereit sind, sich für ihre Überzeugung einer existenziellen Bedrohung auszusetzen, und die trotzdem – oder gerade deshalb – mit Lebensmut und Lebenskraft ihren Alltag meistern, und zwar die ganze Familie; die Erfahrung, dass sie dabei nicht verbittert und verhärtet sind, geschweige denn radikal und bösartig, ja: nicht einmal einseitig und ungerecht in ihrem Urteil: Diese Erfahrung werde ich als einen Schatz, als ein riesengroßes Geschenk auf meiner Reise mitnehmen.
Wieviel Glaubensstärke und auch Hoffnung ist in diesem Volk. Da werde ich still und schweige