Die Strecke von Razgrad nach Schmyadowo ist mit 50 Kilometern reichlich bemessen. In dieser Größenordnung habe ich das, wenn ich mich recht erinnere, nur einmal von vornherein geplant und durchgeführt – nämlich zwischen Valea Lunga und Sibiu. Da wusste ich schon vorher, wo ich schlafen würde und das man am Ziel mit mir rechnete.
Und auch bei der Mittwochsetappe (1.Februar) habe ich mich nur anfangs im “Blindflug” bewegt, was das Quartier angeht. Ich war nämlich in Kontakt mit einer polnischen Pilgerin und ihrer Freundin, die den Weg nach Jerusalem in “Ferienetappen” laufen und im Herbst in Bulgarien waren. Sie hatten sich bereiterklärt, mir behilflich zu sein; und für diese längere Tagesstrecke… Na ja: Ich habe das Angebot angenommen, obwohl es ein wenig den Grundsätzen zuwiderläuft, die ich bisher bei meiner Reise gepflegt hatte: Die Unsicherheit ist ja Teil des Programms. Und am Nachmittag erreichte mich dann tatsächlich die Mail, dass die “Schwestern von der Wiederauferstehung” in Carew-Brod mich erwarteten.
Was soll ich sagen: Es war tatsächlich eine ganz wesentliche Erleichterung, ein, wenn man so will, ganz anderes Lebensgefühl, beim Wandern zu wissen, dass da jemand auf mich wartet, und dass ich nicht auch in dieser Nacht kreuz und quer nurch die Stadt rennen muss, um irgendeine Unterkunft zu finden!
Dazu kam als ein kleiner “Bonus”, dass die Oberin, Schwester Elisabeth, Deutsche ist und so die abendliche Unterhaltung enorm erleichtert wurde. Ich konnte über mich und meine Motive zu dieser Reise in einer Weise sprechen, die mir sonst kaum möglich ist, wenn ich mich mit Englisch oder Französisch abmühen muss (oder der Gesprächspartner mit Deutsch als Fremdsprache).
Und da ich eine Schwäche für Vereinfachungen des täglichen Lebens habe, besonders dann, wenn sie mir angeboten werden, habe ich gleich die nächste Etappe genauso “gestaltet”: Regina und Kamila haben für mich die Unterkunft beim orthodoxen Father in Schmyadowo klargemacht, und ich bin munter und sorgenfrei drauflos marschiert.
Was nicht bedeutet, dass so ohne jede Reibung alles klar gegangen wäre:
Was ich hatte, war die Adresse der Kirche und eine Telefonnummer des Priesters; ihn sollte ich anrufen, wenn ich in der Stadt wäre. Das Problem war nun: Er war nicht zu erreichen. Von mir nicht, und nicht von dem netten Passanten, den ich nach dem Pfarrhaus gefragt hatte. Und das Haus selbst zu finden, war nicht einfach: Die Leute schickten mich mal hier, mal da hin… In der Situation war ich doch deutlich gefordert: Es gab – soweit war ich es gewohnt – konkrete Hoffnung auf eine Unterbringung, aber eben auch viel Unsicherheit. Und: Ich konnte mich jetzt nicht einfach woanders hinwenden: Es bestand ja die Verabredung mit dem Pater!
Man kann also sagen: So Gott will, bleibt mir die Unsicherheit auch dann erhalten, wenn nette Menschen sie für mich aus dem Weg räumen wollen…
Schließlich stand ich doch noch vor einem Haus, das ein orthodoxes Kreuz an der Tür hatte. Die Sonne war längst untergegangen, und es war schon wieder ganz empfindlich kalt geworden. Erstaunlicherweise war die Tür zum Hof nicht verschlossen. Eine Klingel gab es auch – und es hat sogar jemand geöffnet! Das war allerdings offensichtlich nicht der Pater. Es war ein junger Mann in T-Shirt und Jogginghose, die Haare raspelkurz geschnitten. Deutsch und Französisch konnte er nicht. Aber ein ganz klein wenig Englisch. Als ich mein Anliegen vorgebracht hatte, hängte er sich ans Telefon – aber offensichtlich genauso vergeblich wie ich. Zweimal verschwand er im Haus, derweil ich draußen wartete. Als er zum dritten Mal heraus kam, fragte er mich, ob ich Hunger habe. Ich durfte eintreten und bekam von der noch jüngeren Gattin meines Gesprächspartners in Windeseile ein Essen auf den Tisch gezaubert – dann widmete sie sich wieder ihrem wenige Monate alten Kind.
Als ich gegessen und getrunken hatte, schien es mit dem Telefonat doch noch geklappt zu haben: Der junge Mann, ein Russe, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, bedeutete mir, der Pope sei in 20 Minuten da. Dass daraus etwa eine Stunde wurde, war nicht weiter schlimm: Ich hatte es ja warm, war satt und wusste, dass jetzt wohl nichts mehr schiefgehen würde.
Als der Priester kam, wurde die Schwester des gastfreundlichen Russen angerufen – sie lebt in Düsseldorf und wurde als Dolmetscherin zugeschaltet. Ich erfuhr, dass ich garnicht im Pfarrhaus untergebracht werden sollte, sondern im Hotel… Dann fuhr mich der Gottesmann in einem uralten Mercedes-Leichenwagen zum Magazin, kaufte mir Essen in einer Menge, die sicher für drei Tage gereicht hätte, und brachte mich in ein nahegelegenes Gästehaus.
Nachträglich realisierte ich die Zusammenhänge, auch mit Hilfe einer Mail, die mir meine liebenswerte polnische Gönnerin noch zukommen ließ: Der Russe und seine Frau, das waren nicht irgendwelche freundlichen Leute gewesen – das waren der Sohn und die Schwiegertochter des Popen! Und sie waren überraschend zu Besuch gekommen. Das hatte die Planung ins Wanken gebracht…
Wie die Angelegenheit wohl für mich ausgegangen wäre, wenn ich nicht diese Vorab-Verabredung gehabt hätte?!?