Die strahlende Morgensonne von vorn, kaum Wind – so ließ sich der scharfe Frost am Morgen des 10. Januar beim Wandern gut ertragen. Entgegen der Empfehlung des Schweinebarons war ich nicht nach Trestenburg marschiert, sondern hatte wieder einen Feld-“weg” in direkter Richtung auf Jerusalem gewählt. Ich fühlte mich inzwischen hinreichend geländegängig. Und das war ich auch: Es ging gut voran.
Das Ende der ungarischen Tiefebene hatte sich gestern schon am Horizont angekündigt. Jetzt, nach etwa eineinhalb Stunden morgendlichen Fußmarsches, war es gekommen: Es ging bergauf. Die Landschaft war geradezu zauberhaft schön in ihrem ineinander verwobenen Wechsel aus Berg und Tal, Wald, Wiesen, Ackerland und Brache (auch die winterliche Tiefebene, in der ich jetzt einige Tage gewandert war, hatte eine herbe Schönheit ausgestrahlt. Aber man leidet dort, ähm, nicht unter Reizüberflutung…).
Inzwischen ging ich wieder auf der wenig befahrenen Landstraße. Plötzlich kam mir ein Polizeiauto engegen. Ich vermutete sofort, dass ich diesen Wagen heute nicht zum letzten Mal gesehen haben würde, und richtig: Nach fünf Minuten stand die Polizei neben mir. Ich sollte mich ausweisen und musste erklären, was ich hier mache. “Per pedes?!?”, war die ungläubige Rückfrage des einen Polizisten, als ich sagte, ich sei zu Fuß von Deutschland hierher gekommen. “Extraordinaire!!!” Mit besten Wünschen für die weitere Reise fuhr die Polizia schließlich wieder von dannen.
Als ich die Einmündung der Straße aus Richtung Satu Mare passiert hatte, wurde das Verkehrsaufkommen lebhafter. Jetzt gab es allerdings einen breiten Seitenstreifen, der trotzdem ein nervenschonendes Fortkommen ermöglichte. Ich begann, mit dem Gedanken zu spielen, die 57 Kilometer bis Salau durchzulaufen und dort zu versuchen, trotz dann herrschender Dunkelheit noch eine kirchliche Unterkunft zu bekommen – in der Stadt ist der Begriff Dunkelheit ja sehr relativ. Und: ich wusste, dass man mich dort im Zweifelsfall in einer Obdachlosenunterkunft am Erfrieren hindern würde…
Gegen 16:00 Uhr, ich hatte nach dieser Planung noch etwa 15 Kilometer vor mir, hatte ich im Bauch plötzlich das Gefühl, heute vielleicht die erste “Stuhlgang-Außenlandung” hinlegen zu müssen… Just in diesem Moment sah ich auf der anderen Straßenseite einen Mann den Bereich vor seinem Haus kehren. Ich wechselte zu ihm hinüber und fragte ihn auf englisch, deutsch und französisch, ob ich seine Toilette benutzen könne. Er schien weder gut zu verstehen, noch große Lust zu haben, sich um mich zu kümmern. Also verabschiedete ich mich gleich wieder und marschierte weiter. Nach etwa zehn Schritten holte mich aber der Ruf des eben Angesprochenen ein: Der Mann legte seinen Besen zur Seite und begleitete mich dreißig Meter bis zum eben angekommenen Auto der Nachbarn. Dort wurde in der – aus meiner Sicht – “Geheimsprache” Ungarisch verhandelt. Dann wurde noch eimal nachgefragt, welche Sprachen ich könne, und beim Stichwort Deutsch war eine etwa siebzehn- oder achtzehnjährige Heranwachsende begeistert. Sie war das einzige Mädchen unter mehreren Kindern und Jugendlichen, die inzwischen beim Auto und ihren offensichtlichen Eltern standen. Ich sollte eintreten, man machte mir Tee, und noch bevor ich auf die Toilette durfte, teilte man mir mit, dass es gleich etwas zu essen für mich gebe…
Die junge Frau war mir teils Dolmetscherin, teils Gesprächspartnerin. Es ging, natürlich, um meine Reise und die familiären Hintergründe, bald aber auch um die deutsche Flüchlingspolitik (die, wie überall hier im Osten, sehr kritisch gesehen wurde), das Fremdsprachenlernen und den christlichen Glauben. Es stellte sich heraus, dass die Familie, deren Kinderzahl sich auf sieben beläuft, baptistisch und darüber hinaus geschäftlich wohl recht erfolgreich ist. Und als ich, ob der fortschreitenden Zeit dann doch etwas unruhig, darauf hinwies, dass ich mich jetzt bald entscheiden müsse, wie ich bei der Quartiersuche für heute weiter verfahren solle, bot mir der Familienvater an, mich nach Salau in die Stadt zu fahren und mir eine Übernachtung zu bezahlen – er mache das gerne! Allerdings gab es schließlich auch Verständnis für meine Haltung, den Weg nach Jerusalem nicht im Fahrzeug abkürzen zu wollen.
Und dann kam der straßenfegende Nachbar ins Spiel: Ich erfuhr, dass er sich freuen würde, wenn ich bei ihm schliefe. Er sei allerdings etwas einfach eigerichtet: Eine Dusche oder auch ein Badezimmer gebe es nicht, und man müsse draußen im Hof auf die Toilette gehen, ein Plumpsklo, wie ich es schon in Cig kennengelernt hatte.
Und endlich kam auch noch heraus, dass die Mutter des Nachbarn am Vortag verstorben und im Haus aufgebahrt war, wenn auch nicht in dem Raum, in dem der Nachbar und ich gemeinsam schlafen würden… Aber sonst sei der Josef ein lieber Mensch. Nur manchmal, ja, da tränke er leider etwas zuviel!
Nun, ich erklärte mich bereit, Josefs Angebot anzunehmen. So nahm denn ein in dieser Weise noch nicht gekannter Abend seinen Lauf. Zwei alte Nachbarinnen fanden sich ein, die erst einmal hinüber zu Josef gingen und dafür sorgten, dass der Herdofen in der “Wohnküche” ordentlich bullerte, dass es sauber war und ein Nachtlager für mich bereitet wurde. Dann verabschiedete ich mich von der Großfamilie (es wohnen, muss man anfügen, nicht mehr alle Kinder im Haus), vereinbarte, um 7:00 Uhr zum Frühstück wiederzukommen, und ging hinüber in das Haus der Verstorbenen.
Wir (Josef und ich) beteten zunächst gemeinsam für seine Mutter, dann machte ich mich daran, mich auf “altrumänische” Weise vom Staub der Straße zu befreihen: Ein großer Topf mit Brunnenwasser kam auf den Herdofen, und als das Wasser warm war, wurde es in eine Schüssel gegossen; dann kam der Schwamm zum Einsatz…
Josef verschwand währenddessen für, wie er sagte, eine Stunde. Das war ein wenig heikel: Der Vater der Nachbarsfamilie hatte mit Vorbedacht Josefs Kellerschlüssel an sich genommen: das würde Alkoholexzesse verhindern. Und jetzt ging Josef außer Haus…
Meine Bedenken erwiesen sich aber als völlig unbegründet: Josef war nach 40 Minuten wieder da – nüchtern. Nachdem auch er sich für die Nacht präpariert hatte, gingen wir hinüber zur Leiche seiner Mutter, ein weiteres Mal zu beten. Im Sarg leicht erhöht aufgebahrt fand sich der zierliche Leib einer schönen, in würde gealterten Frau unter einem sehr grobmaschigen Netz aus feinem Garn liegen. Sie war so gekleidet, wie sie vielleicht auch gelebt haben mag: ganz in schwarz, und nicht zugedeckt (vom beschriebenen Netz abgesehen). Ich hatte den Eindruck, mich in der Gesellschaft eines in Frieden hinübergegangenen Menschen zu befinden.
Auch die Nacht in Josefs Wohnküche verlief völlig entspannt: Keiner von uns beiden hat den anderen durch Schnarchen geplagt, und ein morgendlicher Toilettengang in den Hof erwies sich auch bei -15°C problemlos: Ich habe nicht lang gebraucht, und außerdem wusste ich ja, dass ich anschließend sofort wieder unter die warme Decke schlüpfen kann…
Ein ausgiebiges Frühstück bei den Baptisten – diesmal waren nur die Mutter und der zehnjährige Jüngste anwesend, die anderen waren schon weg, und der Vater hielt sich im Obergeschoss auf – war ein hervorragender Start in den neuen Wintertag. Und zur Krönung gab es außer reichlich Proviant – ich musste wenigstens die Tüte mit den Knabberbrezeln und den Trinkjoghurt da lassen, die konnte ich beim besten Willen nicht mehr unterbringen – noch eine warme Mütze und ebensolche Handschuhe geschenkt… Meine Ausrüstung hatte in diesen Punkten dem sieben- oder achtfach geübten mütterlichen Blick nicht ganz standhalten können!
Wie schön!
Da wurdest du genau in dieses Haus als Seelsorger und Priester gerufen und warst berufen, die Nacht mit dem Sohn der Verstorbenen zusammen zu sein und für die Verstorbene das Gebet zu beten.
Ich spüre, nachdem ich deine Schilderung der “Begegnung” mit den Menschen diesen Tages und dieser Nacht las, deine innere Stärke und Demut, dein wahres Mitgehen mit denen, die dir in ihrer Situation, anbefohlen wurden. Das ist wahre seelsorgerliche Präsenz, für die ich hohe Achtung und Bewunderung in mir wahrnehme.