Die Erfahrungen, die ich mit der Kirche in bezug auf die Hilfe beim Pilgern bislang machte, waren oft sehr schön, insgesamt aber, sagen wir: unterschiedlich. In der Kirche im Ort westlich von Jordanow hatte ich zum Beispiel kein Glück: Der Pfarrer hörte sich mein Sprüchlein an und erklärte mir dann, in seiner Parafia ginge so etwas nicht. Er verwies mich an die Kirche im nächsten Ort, Jordanow, das sei vier Kilometer entfernt. Auch beschrieb er mir das nächste Hostel genauer als das Pfarrhaus (auf polnisch, aber so, dass ich es nachher genau dort fand, wo ich es erwartet, aber narürlich nicht gesucht hatte).
Die vier Kilometer stellten sich als geschönt (oder, wahlweise, bis Ortseingang gemessen) heraus: Tatsächlich hatte ich eher noch sieben Kilometer vor mir. Dann das Pfarrhaus: Offensichtlich belebt, an der Klingel fünf kirchliche Persönlichkeiten zur Auswahl. Die zweite meldete sich an der Sprechanlage, konnte aber kein deutsch und wollte nichtmal auf das “Zauberwort” Pielgrzym reagieren. Als der Mann aufgelegt hatte und sich auf das Betätigen der anderen Klingeln niemand meldete, war guter Rat teuer (die Zeit war jetzt doch schon fortgeschritten…). Ich wusste nicht recht, was tun, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es gut sei, weiterzumarschieren. Ich versuchte zunächst, das Pfarrhaus zu fotografieren (das scheiterte an den Lichtverhältnissen, dem Handy und mir…). Dann setzte ich mich auf den Fußabtreter, um meine Schuhe zu wechseln: Wenn ich wirklich weitermüsste, dann dringend mit anderen Schuhen, soviel stand fest.
Mitten in der Umzieaktion ging die Tür auf und mehrere junge Maenner verliessen an mir vorbei das Haus. Ich versuchte, dem in der Tür stehenden Pfarrer die Sache mit den Schuhen zu erklären. Dabei stellte sich heraus, dass er ausgezeichnet deutsch sprach. Ich schöpfte wieder Hoffnung und bot ihm einen Blick in mein Tagebuch mit den, wie ich fand, eindrucksvollen Kirchen- und Klosterstempeln an. “Sie können mir alle Stempel der Welt zeigen!”, – der Personalausweis war ihm viel wichtiger. Den werde er natürlich von der Polizei überprüfen lassen, um sicher zu gehen, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich konnte erstmal reinkommen, musste mir aber so einiges anhören: Dass man nach Jerusalem doch über Österreich und Italien ginge und dann das Schiff nähme, und wie verrückt und unverantwortlich das Pilgern im Winter doch sei. Dann wollte er wissen, was ich brauche (Platz für den Schlafsack und die Isomatte, vielleicht eine Gelegenheit, mich ein wenig zu waschen), und überhaupt: er sei nicht einverstanden… Ob ich noch was zu essen habe (fast nichts mehr). Dann sollte ich meine Schlafsachen hier im Gemeinderaum ausbreiten, und der Pfarrer ging, mir etwas zu essen herzurichten.
Nach einigen Minuten war er wieder da und forderte mich auf, meine Sachen zu nehmen und mitzukommen. Er gebe mir jetzt einen anderen Raum.
Über den Balkon – ich bekam kurz einen Schreck, als es wieder in die Kaelte hinaus ging – erreichten wir ein winziges Einliegerzimmer mit Bad, das offensichtlich als Hausarbeitsraum genutzt wurde. Dort konnte ich mich zwischen Wäscheständer, Schreibtisch und zwei abgestellten Matratzen einrichten. Es gab das Uebliche: Helles Brot, hellen Kochschinken, Wurst, Käse. Dazu noch Kuchen und Kekse – hungern musste ich also wahrlich nicht! Das Wasser in Dusche und Waschbecken benötigte eine lange Vorlaufzeit, um leidlich warm aus dem Hahn zu kommen. Das war insofern unangenehm, als es in der Bude doch ziemlich kalt war. Dafür gab’s edles Federbettzeug, seidene oder doch zumindest “seidige” Bezüge und eine gute Matratze. Beim Verabschieden für die Nacht sagte mir mein Gastgeber noch, das sich Glück gehabt habe: Er sei schon in Stuttgart gewesen, einer der hiesigen Priester sei dort, und dass ich in Stuttgart geboren sei, habe die Würfel zu meinen Gunsten fallen lassen. Und außerdem: er habe einen sehr langen und unerfreulichen Tag hinter sich, da reagiere man leider nicht immer so, wie man es selbst eigentlich wolle. Er wünsche mir eine gute Nacht und gute Reise. “Aber ich bin trotzdem böse auf Sie!”, ergänzte er am Schluss noch seine Ausführungen.
Am Morgen kam der Pfarrer kurz herein, kündigte die Haushälterin mit einem Frühstück an und wünschte nocheinmal gute Reise. Das Pilgerbuch zu stempeln lehnte er entschieden ab.
Dieser Pfarrer weiss offensichtlich einerseits, was er selbst will, und andererseits, was sich für eine christliche Kirche “gehört”. Insgesamt empfand ich ihn in unserer Begegnung als sehr authentisch, überzeugend und sympathisch.
Am Abend darauf dann ein anderes Bild:
Als ich in Zdiarg im Andenkenladen nach der Kirche und dem Pfarrer frage, bekomme ich gleich die Info mitgeliefert, dass der Pfarrer erst um 20:00 Uhr wieder da sei (da ist es 17:45). Das nächste Dorf, etwa 5 Kilometer entfernt, soll keine Kirche haben, das übernächste wohl auch nicht. Mir und meinen Beinen ist sowieso nicht nach Weiterlaufen, und so gehe ich aufs Geratewohl in einen Skiverleih-Laden, um mich aufzuwärmen (das geht im Souvenirladen nämlich leider nicht…). Im Skiladen dagegen geht es besser als vermutet: Es ist sehr warm, und es kommt eine Viertelstunde niemand rein! Ich sitze im Flur auf einem alten Sofa an der Heizung und schreibe. Als schließlich der Besitzer auftaucht, ist es für ihn kein Problem, dass ich noch eine Weile sitzen bleiben möchte! Das ist mir natürlich eine große Hilfe, aber um 19:15 Uhr ist auch hier leider endgültig Schluss (an der Tür steht 18:00 Uhr). Ich muss raus in die Kälte.
Ich spaziere langsam dem Pfarrhaus zu (ca. 1 km), inständig hoffend, dass der Hausherr früher zurückkommen möge als geplant. Auf mein Klingeln öffnet eine etwas ältere Frau, die des Deutschen einigermassen mächtig ist. Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist sie die Mutter des Pfarrers. Sie vertröstet mich auf acht, halb neun und gibt mir noch den Hinweis, es doch in dem Hostel 50m weiter oben zu versuchen, dort gebe es Übernachtungen “für ganz wenig, zwei Euro oder so”. Nun, wie ich später in Erfahrung bringe, sind es 14 Euro, und das allerdings auch nur dann, wenn sie ein Bett frei haben…
Zunächst öffnet im Hostel niemand. Ich gehe also eine Runde spazieren, um nicht zu sehr auszukühlen. Dann versuche ich es erneut. Leider mit dem gleichen Ergebnis. Im Pfarrhaus tut sich ebenfalls noch nichts, also schlendere ich weiter in der Nähe hin und her. Als mir auch gegen halb neun im Pfarrhaus keiner aufmacht, probiere ich es nochmal im Hostel. Jetzt macht man mir auf – Gott sei Dank, ich bin inzwischen doch ziemlich am frieren; sogar meine Super-Winterschuhe halten nicht mehr warm, wenn sie von innen nass sind und ich mich zuwenig bewege.
Im Hostel treffe ich auf vier sehr nette und aufgeschlossene junge Leute: Zwei Studentinnen aus Deutschland (die eine ist Inderin), den ehemaligen Manager des Hostels, der an diesem Tag hier Urlaub macht, und einen Mitarbeiter von Medecins sans frontiers. Ich bekomme Tee und echt indisch zubereiteten Reis mit Linsen – köstlich! Auf Anregung aus dieser Gruppe schreibe ich einen Zettel für den Pfarrer (es zeichnet sich ab, dass ich nicht im Hostel werde bleiben können) mit meiner Telefonnummer und klebe ihn beim Pfarrhaus an die Türe.
Man ist sich weitgehend einig: Bei diesen Temperaturen werde mich der Manager doch nicht auf die Strasse schicken… Was er dann, als er wenig später eintrifft, doch tut. Er sei komplett ausgebucht und habe absolut keinen Platz. Der Pfarrer, der kurz vorher rauchend am Hostel aufgetaucht war, versichert seinerseits, auch er könne mir nicht helfen: er habe zwar noch das alte Pfarrhaus, dort sei aber ein Tourist einquartiert, der Wochen vorher gebucht habe. Da könne man jetzt nicht einfach kommen und sagen, dieser oder jener Raum sei heute Nacht anderweitig belegt.
Jetzt schalteten sich auch die beiden vorhin erwähnten Männer ein. Ian, der vormalige Hostelmanager, nahm den Jetzigen ins Gebet; Marcel, der “grenzenlose”, sprach mit dem Pfarrer. Beide leider ohne Erfolg. Und da für die meisten Beteiligten klar war, dass ich bei den gegebenen Umständen kaum wieder “auf Strecke” gehen konnte, entwickelte sich nun ein langwieriges, von meinen neuen Freunden sehr engagiert geführtes und begleitetes Suchen nach einer Lösung. Marcel erklärte sich bereit, sich an den Kosten einer kommerziellen Unterkunft zu beteiligen und ging mit mir zusammen die Nachbarhäuser abklappern; alle waren ausgebucht. Ian sprach wohl nocheinmal vergeblich mit Pfarrer und Manager, und die ganze Runde (ohne Pfarrer und Geschäftsführer) machte eine Art Brainstorming, was es noch für Möglichkeiten gäbe. Ein reguläres Hotel wurde angedacht. Am Ort hatte man da aber keine Chance: Um die Jahreswende und bei Kaiserwetter ist da so kurzfristig nichts zu machen. Dann in der nächsten Stadt? Nun, der letzte Bus nach Poprad war schon weg, das Taxi hätte mindestens 25 Euro gekostet, und als Pilger sollte ich ja sowieso zu Fuß gehen (was der sehr netten Inderin durchaus Sorgen zu machen schien: sie wollte unbedingt verhindern, dass ich mitten in der Nacht noch loslaufe). Und dann wäre die Frage nach dem Hotel immer noch nicht zuverlässig gelöst gewesen…
Der Pfarrer (mein Eindruck war, dass er an diesem Abend mehr Zeit beim Rauchen an der frischen Luft verbrachte als üblich…) hatte mittlerweile einerseits meine Motivation offensiv in Frage gestellt (für ihn sei ein SOLCHES Pilgern keine wahre Religiosität), andererseits mir 20 Euro in die Hand gedrückt – mehr könne er nicht für mich tun. Und er sei überhaupt nicht damit einverstanden, dass ich die Leute auf diese Weise unter Druck setze: Etwas ganz anderes sei es doch, wenn man sich vorher melde und ankündige, dass man komme. Ich dagegen komme einfach dahergelaufen, sage, hier bin ich, kümmert euch um mich! und täte selbst nichts. Ich bestätigte ihm, dass er in gewisser Hinsicht natürlich Recht habe, was den Druck angehe: der entstehe tatsächlich, auch wenn er von mir nicht beabsichtigt sei. Marcel dagegen widersprach ihm und machte ihn darauf aufmerksam, dass ich doch gerade dadurch, dass ich jede Sicherheit aufgebe und ganz auf Vetrauen und Mitmenschlichkeit setze, und zwar mit vollem persönlichen Risiko, gerade unheimlich viel tue und nicht nichts (er hatte in meinem Blog gelesen).
Schließlich gingen der Pfarrer und ich noch ein paar Schritte in Richtung Pfarrhaus. Er hatte von mir wissen wollen, was ich denn jetzt zu tun gedenke, und ich musste eingestehen, dass ich, wenn es bei den beiden Ablehnungen im Hostel und im Pfarrhaus bliebe, keine Alternative hätte, sondern versuchen müsse, mich in der Nacht irgendwie weiter auf den Beinen zu halten. Das veranlasste ihn zu der Nachfrage, ob ich am Leben bleiben wolle – was ich ihm vollumfänglich bejahen konnte (ob ihn das freute oder eher störte, weil es den Druck natürlich eher noch erhöhte, konnte ich nicht abschätzen…). Und nun wollte er auf unserem kleinen Spaziergang noch mehr über meine Intention in Bezug auf die Pilgerreise wissen.
Ich versuchte mehr schlecht als recht, ihm ein bisschen was von dem zu erläutern, was bei meiner Reise als Hintergrund zum Thema Vetrauen eine wichtige Rolle spielt. Das war aber nicht leicht für mich: Das Misstrauen des Pfarrers war deutlich spürbar, und das löste nicht gerade meine Zunge (die, wenn ich englisch reden muss, gerade bei komplizierteren Sachverhalten ohnehin nicht besonders frei ist).
Schließlich – es dürfte mittlerweile 22:30 Uhr gewesen sein – nahte Rettung in Gestalt von Ian: Er hatte bei den Nachbarn nebenan doch tatsächlich ein Zimmer für mich klargemacht! Man brauche dort aber noch etwa eine Stunde Zeit, um alles herzurichten.
Und jetzt geschah auch noch ein echtes kleines kirchliches “Wunder”: Der Pfarrer erklärte sich nun ebenfalls bereit, mich im Souterrain seines Hauses nächtigen zu lassen… Ein Bad sei da, aber kein Bett, ich müsse also auf dem Boden schlafen.
Meine Tendenz war eigentlich, bei der Kirche zu übernachten. Allerdings schien mir dieses Ja dann doch nicht allzusehr von Herzen zu kommen, sondern dem schon erwähnten Druck geschuldet zu sein. Ich sagte also Ian und den Nachbarn mit tausend Dank zu, konnte mich in einem schönen Bad frischmachen und in einem komfortablen Bett in einem heimelig-rustikalen, sauberen und angenehmen Zimmer schlafen (wenn auch erst nach Mitternacht). Leider weiss ich nicht einmal den Namen dieser großzügigen Menschen! Nur, dass sie das Haus talabwärts neben dem “Ginger Monkey” bewohnen.
Ich werde in Jerusalem ganz bestimmt für euch alle, die ihr mich an diesem Abend wohlwollend begleitet und mir einmal mehr aus der Patsche geholfen habt, beten! Und wohl auch für die, denen das an diesem Abend schwer gefallen ist. Vielleicht besonders auch für den Pfarrer: Er war sichtlich hin- und hergerissen zwischen seinem eigenen Anspruch (oder dem seiner Kirche?), niemanden im Stich zu lassen, der Hilfe benötigt, und der anscheinend unüberwindlichen Abneigung, einem Fremden (“Peregrinus”) sein Haus zu öffnen. Aber man muss ihm zugute halten, dass er erkennbar wenigstens gezweifelt hat, auch wenn er nicht in der Lage war, die aus meiner (natürlich völlig objektiven und uneigennützigen!) Sicht einzig naheliegende Entscheidung zu treffen…